Die Erneuerung der Kirche. George WeigelЧитать онлайн книгу.
der uns im Sohn den Vater erkennen lässt. Alle, die Jesus, dem Herrn, in der Gabe des Geistes bei der Firmung oder in den Worten der Absolution im Beichtstuhl, in den Salbungen und Gebeten der Priesterweihe oder im Austausch des Gelöbnisses und wechselseitigen Geschenks der Liebe bei der Trauung begegnen, haben durch den Sohn den Vater gesehen. Und das gilt auch für alle, die bei der Krankensalbung geistliche und zuweilen auch physische Heilung erfahren haben. Vor allem aber werden alle diejenigen eins mit dem Vater, die, dem Sohn gehorsam, in der heiligen Eucharistie seinen Leib und sein Blut empfangen. Ihr Einswerden mit dem Vater geschieht in der Kraft des Heiligen Geistes, der vor der Wandlung auf Brot und Wein herabgerufen wird.24
Der evangelikale Katholizismus ist also eine Wirklichkeit aus Wort und Sakrament, und das gleich in mehrfacher Hinsicht. Das Wort des Evangeliums, das verkündet wird, ist gleichzeitig das Wort Gottes, es ist Jesus, der Herr: das Sakrament, das durch die sieben Sakramente in der Kirche gegenwärtig ist. Die Begegnung mit dem Wort Gottes, wie es in der Heiligen Schrift enthalten ist, vollzieht sich durch die Sakramente, die niemals ohne Schriftbezug gefeiert werden. Wachstum in Glauben, Hoffnung und Liebe – Wachstum in der Freundschaft mit Christus – wird durch den regelmäßigen und häufigen Empfang der Sakramente gespeist, und dieses Wachstum wiederum trägt dazu bei, dass sich uns das Wort Gottes im Alten und im Neuen Testament in Aspekten erschließt, die uns zuvor vielleicht rätselhaft, unklar oder gänzlich verborgen waren. Das alles ist ein Gesamtpaket, eine einzige evangelikale katholische Wirklichkeit. Wort und Sakrament sind ebenso wenig voneinander zu trennen wie Evangelium und Kirche, Schrift und apostolische Tradition, Mission und Dienst.
Evangelikale katholische Männer und Frauen, die – durch die tägliche Bibellektüre und den regelmäßigen Empfang der Eucharistie und des Bußsakraments – sowohl im Wort als auch im Sakrament gestärkt werden, werden durch den Gehorsam des Glaubens so geformt, dass sie zu echter Freiheit fähig sind.25 Diese echte Freiheit ist Freiheit für die Wahrheit und in der Wahrheit der Freundschaft mit Christus sowie Freiheit von unserer ungezügelten Eigenliebe, die auf dem Weg zur Begegnung mit Gott immer und überall das größte Hindernis darstellt. Deshalb führt der Glaubensgehorsam nicht etwa in die Unterdrückung, sondern in die radikale Freiheit: die Freiheit, sich frei für das Gute, Wahre und Schöne zu entscheiden und daraus eine moralische Gewohnheit zu machen.26 Das ist allerdings ein zutiefst gegenkultureller Lebensstil und basiert – zumindest nach den Maßstäben des 21. Jahrhunderts – auf einer zutiefst gegenkulturellen Realitätswahrnehmung.
Sich dem Zeitgeist stellen
Der evangelikale Katholizismus bekennt, dass die Menschheit von Jesus, Marias Sohn, das Gefäß der Inkarnation des Sohnes Gottes ist. Ebenso bekennt der evangelikale Katholizismus, dass die außergewöhnliche Gnade Gottes durch die gewöhnlichen Substanzen des Lebens – die Substanzen der sieben Sakramente: Brot, Wein, Öl und Wasser – in die Geschichte eintritt, die Freunde Jesu nährt und sie in ihrer missionarischen Jüngerschaft stärkt. Diese katholische Sakramentalität, diese sakramentale Vorstellung von der Welt, ist eines der kulturellen Erkennungsmerkmale des evangelikalen Katholizismus im 21. Jahrhundert und eine der schärfsten Herausforderungen der Kirche an den Zeitgeist – einen »Geist«, auf den die schlichten katechetischen Formeln und Frömmigkeitspraktiken des gegenreformatorischen Katholizismus nicht wirkungsvoll hatten antworten können.
Dieser »Geist« ist, um es mit zwei technischen Begriffen zu sagen, gnostisch und antimetaphysisch.
Die späte Moderne und die Postmoderne haben – auf kultureller Ebene – den Gnostizismus machtvoll wiederaufleben sehen, die älteste aller Irrlehren, die die Gutheit der Schöpfung leugnet und nicht in der Geschichte und der Erfüllung der Geschichte, sondern außerhalb der geschichtlichen und materiellen Welt nach Erlösung sucht. In seiner aktuellen Spielart verkündet der Gnostizismus des 21. Jahrhunderts die uneingeschränkte Formbarkeit des Menschseins: Bei Männern und Frauen ist nichts, nicht einmal ihr Geschlecht, gegeben; alles ist wandelbar; alles lässt sich verändern, um die Wünsche des alles beherrschenden autonomen Selbst zu erfüllen (oder seine »Bedürfnisse« zu befriedigen, wie es in der Regel heißt). Und auch in der Gesellschaft gibt es nichts, das vorgegeben wäre. Im Hinblick auf die Ehe zum Beispiel ist nichts vorgegeben; »Ehe« – und natürlich auch »Familie« – kann jede gewünschte Bedeutung haben.
Der Zusammenbruch jedweder kulturell überkommenen Vorstellung von einer tiefen, in die Welt und in die Menschen hineingelegten Wahrheit kennzeichnet die späte Moderne und Postmoderne: eine Wahrheit, die wir (unvollständig, aber unzweifelhaft) mit den Mitteln unseres Verstandes erfassen können. Dieser Zusammenbruch wurde im 18. Jahrhundert durch die von David Hume und Immanuel Kant geübte Kritik an der klassischen und mittelalterlichen Metaphysik vorbereitet: eine Kritik, die mit der Zeit (und ungeachtet dessen, was Hume und Kant eigentlich beabsichtigt hatten) die Überzeugung der westlichen Welt untergrub, wonach das Leben und damit auch die Geschichte zweckorientiert sind. Die Welt bot nun einen unerschöpflichen Vorrat an potenziellen Bedeutungen, doch diese Bedeutungen waren auf keinerlei Zweck hingeordnet. Folgerichtig setzte man die individuelle Freiheit mit der Maximierung der möglichen Mittel gleich. Was aber rechtfertigt diese Mittel, wenn sie nicht durch ihren Zweck gerechtfertigt werden, nämlich das Gute, das von Gesellschaften und Individuen angestrebt werden soll? Ohne eine Vorstellung vom »Zweck« – den guten Dingen, die wir erstreben sollten, weil wir sie als gut erkennen können – sind die Mittel Trumpf. Technik und Nutzen sind das Einzige, was zählt.
Wie sich all das auf die Würde der menschlichen Person und auf die Gesellschaft auswirkt, hat Aldous Huxley in Brave New World (»Schöne neue Welt«) auf brillante Weise vorweggenommen. Irgendwie scheint Huxley, noch bevor seine Schreckensvision von der menschlichen Zukunft durch die Entschlüsselung der DNA-Doppelhelix wissenschaftlich plausibel wurde, geahnt zu haben, dass die alte gnostische Lehre von der Formbarkeit des Menschseins, wenn man sie mit moderner Technologie kombiniert und auf eine Kultur loslässt, die gar nicht mehr versucht, die tieferen Grundwahrheiten der Dinge aus den Gegebenheiten der menschlichen Natur herauszulesen, eine Welt hervorbringen würde, in der sich die prometheische Versuchung als unwiderstehlich erweist. Aldous Huxley war kein großer Literat. Aber er hat die Tragweite der kulturellen Herausforderung erfasst, der der gegenreformatorische Katholizismus nicht gewachsen war und auf die der evangelikale Katholizismus reagieren muss. Das zeigt sich in einem Abschnitt etwa in der Mitte seines Romans, in dem er beschreibt, was einem der allmächtigen Weltkontrolleure beim Lesen eines wissenschaftlichen Aufsatzes durch den Kopf geht, den er prüfen soll, ehe er ihn zur Veröffentlichung freigibt. Offenbar hat der Denker, der ihn verfasst hat, einige alte Grundwahrheiten wiederentdeckt:
»›Neue Theorie der Biologie‹ hieß die Abhandlung, die Mustafa Mannesmann soeben zu Ende gelesen hatte. Mit nachdenklich gerunzelter Stirn saß er eine Weile da, dann nahm er den Stift und schrieb schräg auf das Titelblatt: ›Die mathematische Behandlung des Begriffs der Zweckbestimmtheit durch den Verfasser ist neu und scharfsinnig, die Schlüsse aber, zu denen er kommt, sind ketzerisch und, soweit sie die bestehende Gesellschaftsordnung betreffen, gefährlich und möglicherweise zerstörerisch. Zur Veröffentlichung nicht freigegeben.‹ Diese Worte unterstrich er. ›Der Verfasser ist im Auge zu behalten. Seine Versetzung in die Station für Meeresbiologie auf Sankt Helena könnte erforderlich werden.‹ Schade, dachte er, während er unterschrieb. Es war ein Meisterwerk. Aber wenn man erst einmal Erklärungen zum Thema der Zweckbestimmung zuließ – ja, dann waren die Folgen nicht absehbar. Solche Gedanken untergruben nur zu schnell die Normung der weniger gefestigten Geister innerhalb der höheren Kasten, sie raubten ihnen den Glauben an das Glück als das höchste Gut und lehrten sie stattdessen den Glauben an ein Ziel, das irgendwo jenseits, irgendwo außerhalb des gegenwärtigen menschlichen Bereichs lag. Solche Irrlehren führten dahin, den Sinn des Daseins nicht in der Erhaltung des Wohlbefindens zu sehen, sondern in der Vertiefung und Verfeinerung der Erkenntnis, der Vermehrung des Wissens. Vielleicht war das, überlegte der Aufsichtsrat, sogar ein wahrer Glaube. Aber unter den derzeitigen Verhältnissen unzulässig. Er nahm noch einmal den Stift und zog unter die Worte ›Zur Veröffentlichung nicht freigegeben‹ einen zweiten Strich, dicker und schwärzer noch als der erste.«27
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