Die Erneuerung der Kirche. George WeigelЧитать онлайн книгу.
christiana bezeichnet hat – dass also der menschliche Geist sich von Natur aus zu der Wahrheit des christlichen Glaubens hingezogen fühlt – unter dem Druck des Lustprinzips, eines innerweltlichen Tugendersatzes, verkümmert. Die schöne neue Welt, die Huxley sich vorstellt, ist eine weitgehend seelenlose Welt oder, besser vielleicht, eine Welt der sehnsuchtslosen Seelen (wobei Sehnsucht weder mit »Wunsch« noch mit »Bedürfnis« verwechselt werden darf). Vielleicht erscheint uns diese fiktive Zukunft zu extrem, als dass sie wahr werden könnte; doch wenn wir ihre Möglichkeit ignorieren oder leugnen, schaden wir uns selbst.
Die amerikanische Schriftstellerin Flannery O’Connor hat vor denselben kulturellen Unterströmungen und ihren entmenschlichten Auswirkungen gewarnt und dem Nihilismus der späten Moderne vorgeworfen, er habe Menschen hervorgebracht, die wie »flügellose Hühner« seien: Männer und Frauen, die, wie O’Connor es nennt, die »Gewohnheit, zu sein« verloren haben. Sie haben diese wesentliche menschliche Qualität verloren, weil sie sich das Leben als durch und durch plastisch und formbar vorstellen und ihnen seine Gegebenheiten nicht mehr bewusst seien; sie haben ihre Menschlichkeit verloren, weil die sakramentale Sensibilität, die die westliche Zivilisation in erster Linie dem Christentum verdanke, – jene Ahnung des Außergewöhnlichen, das sich im Stoff des Gewöhnlichen offenbart – kulturell aus ihnen weggezüchtet worden sei.
Unter diesen düsteren kulturellen Umständen, deren soziale und politische Auswirkungen zuweilen durch den materiellen Wohlstand überdeckt werden, war es in der Tat providenziell, dass der Katholizismus im Zuge seiner tiefgreifenden Reform, die Leo XIII. gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf den Weg brachte, wiederentdecken sollte, dass Wort und Sakrament die beiden Grundpfeiler der gelebten Christusnachfolge sind. Die lebensverändernde Macht des Wortes Gottes in den Worten der Bibel ist die gegenkulturelle Antwort der Kirche auf die postmoderne Geringschätzung der menschlichen Fähigkeit, die tiefen Wahrheiten des Menschseins zu erkennen. Die Sakramente sind das Gegengift des evangelikalen Katholizismus gegen den herrschenden Gnostizismus der späteren Moderne und Postmoderne, weil das sakramentale System der Kirche den Stoff der Welt und der menschlichen Beziehungen als Gefäße der göttlichen Gnade betrachtet und denkbar ernst nimmt.
Die Eigenschaften eines engagierten Glaubens
Wort und Sakrament vertiefen die persönliche Freundschaft mit Jesus, unserem Herrn, und diese Freundschaft ist eine wesentliche Voraussetzung für den Vollzeitkatholizismus, der notwendig ist, um inmitten unserer Zeit Glauben, Hoffnung und Liebe zu leben und an der Bekehrung der Welt zu arbeiten. Indem wir uns in das Wort und in die Sakramente versenken, halten wir jenen Prozess der lebenslangen Umkehr in Gang, der in uns die vier Erkennungsmerkmale der evangelikalen Katholiken hervorbringt.
Radikale Umkehr
Der evangelikale Katholizismus lädt die Menschen der Kirche, Laien wie Kleriker, zu einem Leben ein, in dem alles – unsere persönliche Identität, unsere Beziehungen, alles, was wir tun – um die Freundschaft mit Jesus kreist. Der Satz »Ich glaube an das Evangelium« ist das entscheidende Bekenntnis eines evangelikalen katholischen Lebens. Aus ihr erwächst alles andere. Deshalb ist der evangelikale Katholizismus keine Lifestyle-Entscheidung, sondern ein lebensverändernder Prozess der lebenslangen Umkehr zur Wahrheit des Evangeliums. Der Charakter dieser Umkehr, ihre Macht und ihr Anspruch, sind eindrucksvoll in den Worten eingefangen, die Margaret More am Ende von A Man for All Seasons (»Ein Mann zu jeder Jahreszeit«) im Londoner Tower mit ihrem Vater Sir Thomas More wechselt. Margaret fragt Thomas Morus, der seine Stellung, seinen Wohlstand und seine Freiheit aufgegeben hat, ob Gott vernünftigerweise noch mehr von ihm verlangen könne. Worauf Thomas entgegnet: »Nun … letztlich ist es keine Frage der Vernunft; letztlich ist es eine Frage der Liebe.«28 In der radikalen Umkehr des evangelikalen katholischen Lebens hat die Liebe Christi den Jünger verwandelt und ihm oder ihr eine irdische Erfahrung der Liebesgemeinschaft der Heiligsten Dreifaltigkeit geschenkt – eine Erfahrung der Versöhnung, des Einsseins mit Gott, die durch das Ostergeheimnis und die Gabe des Heiligen Geistes möglich geworden ist.29 Diese Erfahrung verändert alles. Sie ist die treibende Kraft hinter der tiefgreifenden Reform der Kirche.
Tiefe Treue
Auch nach seiner radikalen Umkehr bleibt der evangelikale Katholik ein armer Sünder. Doch der evangelikale Katholik weiß nach seiner radikalen Umkehr, dass er oder sie trotz der Verwundungen der Sünde in jeder Lebenssituation um Treue ringen muss. Der Entschluss, sogar in der Versuchung und in der Sünde aus der Liebe Christi zu leben, die in unsere Herzen eingegossen ist, bringt das Streben nach christlicher Vollkommenheit hervor – die wir zwar nie erreichen, die aber dem Jünger als gnadenhafter Erwartungshorizont stets gegenwärtig ist. Der evangelikale Katholik stärkt sich auf seiner Reise zur Heiligkeit Tag für Tag mit dem Wort Gottes, das er in der Bibel liest, und mit dem häufigen Empfang der Sakramente, insbesondere der heiligen Eucharistie und dem Sakraments der Buße oder Versöhnung. Ein evangelikaler Katholizismus im Sinne dessen, was sich das Zweite Vatikanische Konzil unter dieser Form der radikalen Umkehr vorgestellt hat, ist nur möglich, wenn man das Wort Gottes täglich hört und Christus, das Sakrament der menschlichen Begegnung mit Gott, in den Sakramenten der Kirche regelmäßig empfängt. Der evangelikale Katholik liest das Wort Gottes als einen Schatz der Wahrheit, der in einer Vielfalt literarischer Formen zum Ausdruck kommt, und er oder sie empfängt die Sakramente als echte Begegnungen mit dem Gott Abrahams, Isaaks, Jakobs und Jesu. Die Bibel und die Sakramente sind der Maßstab unserer Jüngerschaft. Evangelikale katholische Jünger stehen dem zweifachen Fundament der Kirche – Wort und Sakrament – nicht in einer Haltung der kritischen Skepsis gegenüber.
Freudige Nachfolge
Die freudige Lebensbejahung des evangelikalen Katholiken ist Ausdruck der Dankbarkeit, die die zutiefst gläubigen Jünger nach ihrer Umkehr für die Freundschaft Jesu, des Herrn, empfinden, der uns zu einem hohen Preis von der Last der Sünde und Schuld losgekauft hat. Das heißt nicht, dass evangelikale Katholiken von geistlicher Dürre, Trostlosigkeit und sogar dunklen Nächten der Seele verschont blieben. Gerade wegen ihrer Freundschaft mit Jesus, dessen Erlösungswerk die Form des Kreuzes hat, können evangelikale Katholiken diese Erfahrungen durchleben (das heißt in ihrer Tiefe ausloten). Mithin geht es bei der freudigen Nachfolge des evangelikalen Katholiken nicht darum, sich durchzusetzen, sondern sich hinzugeben. Da er von Christus erlöst worden ist, der uns mit seinem eigenen Leiden, Sterben und seiner Auferstehung die Kreuzesform des Heils aufzeigt, und da er durch die Begegnung in Wort und Sakrament mit ebendiesem Christus Freundschaft geschlossen hat, kann der evangelikale Katholik in Dürre, Trostlosigkeit und dunklen Nächten auf die Kraft des Auferstandenen zählen: die Kraft Christi, der auf Golgatha alle menschliche Furcht auf sich genommen, sie im Feuer seiner aufopferungsvollen Liebe verbrannt und es so all jenen, die gläubig an ihm festhalten, ermöglicht hat, zwar nicht ohne Angst, aber jenseits der Angst zu leben.30 Deshalb ist der typische Mut eines radikal umgekehrten, zutiefst gläubigen evangelikalen Katholiken ein Mut, der jenseits der Furcht liegt, das heißt aus dem Kreuz stammt. Und dieser Mut bringt eine einzigartige und unerschütterliche Freude hervor, die das ganze Leben durchströmt.
Mutige Evangelisierung
Wie weit sie sich wirklich für die »Kraft Gottes« geöffnet haben, »die jeden rettet, der glaubt« (Röm 1,17), und wie wirksam ihre Nachfolge ist, messen evangelikale Katholiken daran, ob sie das Geschenk, das sie selbst empfangen haben, an andere weitergeben: daran, wie sehr sie sich dafür einsetzen, andere zur Freundschaft mit Christus zu führen oder die Liebe Christi für die, die bereits getauft sind, tiefer erfahrbar zu machen. Der evangelikale Katholizismus ist daher ein nicht-apologetischer, missionarischer Katholizismus. Der evangelikale Katholik – Laie, Priester, Bischof oder Ordensmitglied – betrachtet jeden Schauplatz seines oder ihres Lebens als Gelegenheit zur Evangelisierung. Dieses evangelikale Engagement äußert sich vor allem in der Nächstenliebe: in einer Begegnung mit anderen, die hilft, Zerbrochenes zu heilen, Schwaches aufzurichten, in der Trauer zu trösten und in der Verwirrung