Die kleine Stadt. Heinrich MannЧитать онлайн книгу.
fuhr er fort, „fühle ich deutlicher als je, daß große Dinge in mir schlummern. Vielleicht war auch ich zum Künstler bestimmt? Ah! haben Sie je über das Schicksal nachgedacht?“
Aber sie zeigte bestürzt auf die Gestalt, die hinter dem Palazzo Belotti ganz allein auf dem breiten Treppenabsatz stand. Es war ein kleiner Uralter in abgetragener Herrenkleidung. Mit seinen trockenen Falten, seinen Greisenaugen schien er über eine Menge hinzulächeln, die nicht da war, bewegte dabei die Lippen, schlug mit dem Fuß aus und schwenkte, die Linke am Herzen, im Bogen seinen randlosen Hut.
„Es ist nichts“, erklärte der Advokat. „Es ist der Brabrà: so nennen sie ihn nach dem Geräusch, das er verursacht, wenn er sprechen will. Ein armer Alter, etwas verrückt, aber wenig interessant. Sehen Sie mich an! Ein Mann von meinen Gaben! Ich hätte wohl Grund, dem Schicksal —. Aber nein: da ich Ihnen begegnet bin!“
Er bot ihr für die letzten, sehr steilen Stufen den Arm.
„Da haben wir auf dem Plateau den Palast ihrer Exzellenz der Frau Fürstin Cipolla; ich bin in der Lage, ihn Ihnen zu zeigen wie mein eigenes Haus; — und dort rechts das Nonnenkloster mit der Kirche. Ein Langobardenkönig namens — Dingsda hat es gegründet, für seine Tochter, die einen Liebhaber hatte.“
„So streng war er!“ — und Italia sah ehrfürchtig an der wilden schwarzen Mauer hinauf.
„Nachdem wir gesiegt hatten, hat der Staat alles versteigert, aber die Nonnen haben es zurückgekauft. Man wird sie nicht los, die heiligen Unterröcke . . . Versäumen Sie nicht, einen Blick auf die Landschaft zu werfen! Sie sehen von hier zweiunddreißig Ortschaften. Welch wollüstiges Blau: würde man nicht glauben, es sei das Meer, dem die Venus entsteigt? Wer die Einkünfte besäße aus allem, was Sie hier mit zwei Augen fassen, der hätte jährlich nicht weniger als drei Millionen zu verzehren.“
„Himmel! Es wäre Sünde, soviel auszugeben!“
„Für eine Frau würde ich es ausgeben!“ rief der Advokat, in Feuer, und kroch ihr voran durch einen halb eingestürzten Bogen neben dem fürstlichen Palast. „Meine Schwester hat vielleicht recht? Vielleicht wäre ich für eine Frau zu allem fähig.“
Er richtete sich auf und streifte die Sohlen an den Stufen ab.
„Man hätte den Zugang zum Theater reinigen sollen. Gerade diesen Ort haben sich die Leute aus den nächsten Gassen seit langen Jahren ausersehen. Sie besitzen nämlich noch keinerlei Bequemlichkeit im Hause . . .“
Da sprühten Kalk und Kies die Treppe herab und oben stampfte und winkte der Kapellmeister.
„Wo bleiben Sie, Molesin? Geht das so weiter, werden wir die ‚Arme Tonietta‘ niemals herausbringen! Ein Jahr meines Lebens kostet ihr mich!“
„Sie haben recht, Dorlenghi“, sagte der Advokat und beschwichtigte mit der Hand. „Wir kommen, gleich sind wir da.“
„Ich sagte Ihnen schon, daß ich Sie nicht brauchen kann. Aber die Primadonna, nach der ich geschickt habe? Und der Gennari? Er sprach von zehn Minuten, und das ist eine halbe Stunde her!“
Der Kapellmeister überrannte den Advokaten, der sich auf den Schutt setzen mußte, und erwischte hinter dem Torbogen einen Buben.
„Lauf zum Gevatter Achille! Ein Herr sitzt dort. Wenn er nicht sogleich komme, koste es Strafe. Und lauf zum Schneider Chiaralunzi! Er soll mir seine Mieterin schicken. Bist du in zwei Minuten drunten, wirst du sehen, was ich dir schenke.“
Der Junge rannte schon. Oberhalb des Hauses Belotti stieß er mit dem alten Brabrà zusammen, schlug hin und lief zerschunden weiter. Beim Gevatter Achille saß der Herr, aber er schüttelte nur die Schultern und schickte ihn fort. Sogar den Gevatter Achille, der mit ihm sprechen wollte, schickte er fort . . .
Als es halb eins schlug, schrak Nello Gennari auf, reckte sich, tat ein paar widerwillige Schritte nach der Treppengasse und bog wieder ab. Diese Wege, die nicht zu ihr führten, diese Menschen, die sie nicht kannten oder noch bei ihrem Namen gemeine Gedanken hatten: sie beleidigten Nello. Alles, was nicht Alba war, beleidigte ihn. Voll Verachtung blinzelte er über den leeren Platz hin, mit seiner gewöhnlichen Sonne und seinen alltäglichen Schatten. Jetzt hatten sie alle Fensterläden geschlossen. Am Abend öffneten sie sie wieder. Was das für ein Leben war! Und in ein solches war Nello gebannt! Das edlere, nach dem ihn verlangte, ließ ihn nicht ein. Würde Alba je von ihm erfahren? Sie war erschreckend hoch und fern. Die Nacht unter ihren Fenstern lag schon weit dahinten, und kaum konnte man sich denken, daß sie wiederkehre . . . Aber oben im Rathaus hatte etwas sich geregt. Eine Jalousietür im zweiten Stock hatte einen Spalt bekommen, darin betrachteten ihn ein paar Augen, und das weiße Gesicht — hatte es nicht genickt? Er trat hinan: es senkte sich langsam.
Ein Zeichen! Frau Camuzzi, die keuscheste von allen, gab ihm ein Zeichen! Nello verschränkte die Arme. Da hatte er, was ihm gehört: Vergnügen machen und lügen! Warum nicht? War es nicht eine Rache an Albas zu fremder Reinheit, wenn er sich beschmutzte? Und huldigte er nicht ihr, da er die betrügerische Scham und den falschen Stolz der anderen Frauen zu Boden warf, daß nur die eine aufrecht blieb? Das Gesicht droben neigte sich nochmals und verschwand. Nello betrat die Arkaden, er setzte den Fuß auf die Stufe. Ein Geräusch — er wandte sich hastig; und Flora Garlinda sah ihn an. Sie kam aus der Gasse beim Café und überquerte den Platz mit ihrem Eilschritt. Ohne ihn zu verzögern, hatte sie das Haus, den Spalt in der Balkontür und den jungen Mann auf der Treppe gemustert, hatte verächtlich gelächelt und war fort. Nello Gennari errötete tief. Dann warf er zornig die Schulter zurück und ging hinein. Die Absätze der Primadonna klappten schon in der Treppengasse.
So rasch, daß der Junge, der sie führen sollte, zurückblieb, lief sie in ihrem langen, entfärbten Regenmantel, der schlenkerte, weil sie aus Sparsamkeit nur den Unterrock darunter anhatte, und in ihrem schmutzigweißen Filzhut, den sie um des Haares willen trug: lief hinauf und davon, um die Ecken, über die engen Plätze zwischen zwei Stiegen, — und sooft durch eine Lücke der Häuser ihr Blick in Gärten hinabfiel, wo Kinder spielten und eine Familie unter der Laube beim Essen saß, richtete sie den Kopf noch höher. Droben sah sie nicht links noch rechts: unter dem Bogen beim Schloß war ein kleiner Volksauflauf, und irgendwo aus einer unentdeckbaren Öffnung kam die Kreischstimme der Italia Molesin. „Laßt mich durch!“ — und auch über den Kot unter dem Bogen sah sie hin.
Sie riß eine Tür auf; dahinter fand sie, vom Mittagslicht noch blind, alles schwarz. An einer Wand entlang geriet ihre Hand auf etwas Menschliches.
„Entschuldigen Sie!“ sagte jemand.
„Öffnen Sie mir doch die Tür zur Bühne! Ich sehe nichts. Wer sind Sie?“
„Ich bin der Advokat Belotti. Als Vorsitzender unseres Komitees wohne ich der Probe bei.“
„Hier im Dunkeln? Kommen Sie doch fort! Kennen Sie den Weg nicht?“
„Ob ich den Weg kenne! Ich bin ja zu Hause im Palast!“
Da fiel er hin.
„Ja, hier waren Stufen. Ich wußte es, nur dachte ich nicht daran.“
Es ward immer finsterer, und Klavier und Gesang hörten sich weiter entfernt an.
„Wir sind falsch gegangen“, entschied Flora Garlinda. „Wir wollen umkehren, und ich will führen. Da es ein Theater ist, werde ich schon hinfinden . . . Diesen Korridor hatten wir versäumt . . . Und warum sind Sie nicht mit drinnen?“
„Konnte ich denn? Ließ man mich denn?“ — und der Stimme des Advokaten hörte man an, daß er im Dunkeln die Arme schwenkte. „Dorlenghi ist verrückt geworden; er behauptet, daß Fremde nichts dabei zu tun haben. Ich ein Fremder! Der Vorsitzende des Komitees ein Fremder! Er vergißt, daß er selbst hier fremd ist und daß wir ihn fortschicken können.“
„Das ist unnötig. Woher wollen Sie so rasch einen andern nehmen? Aber ich werde Ihnen helfen.“
„Ah! Sie werden —. Fräulein Flora Garlinda, ich habe sofort erkannt, daß Sie eine große Künstlerin sein müssen. Ich sagte noch zu Polli, dem Tabakhändler —“