Aufregend war es immer. Hugo PortischЧитать онлайн книгу.
Bildung, so Dichand, erwarb er, indem er in seiner Lehrzeit als Buchdrucker sämtliche die Druckerei passierende Bücher las.
Das verband uns: Wir lasen und bewunderten die Texte großer Schriftsteller. Da hatten wir viel nachzuholen. Denn an einige kamen wir erst jetzt heran: Ernest Hemingway, John Steinbeck, Jack London, aber auch Egon Erwin Kisch, Lion Feuchtwanger, Kurt Tucholsky und – für uns der größte – Stefan Zweig sowie noch viele andere. Wir lasen sie daheim und meist in der Nacht. Am nächsten Vormittag zitierten wir die Textstellen, die uns besonders imponiert hatten, und lernten daraus.
Auch waren wir das Redaktionszimmer, in dem am lautesten diskutiert wurde, was die Kollegen in den Nachbarräumen immer wieder so störte, dass sie bei uns die Tür aufrissen und »Ruhe« riefen. Was uns so aufregte, waren die Ereignisse der Tagespolitik. Wir nahmen nichts gelassen hin. Zu allem hatten wir unsere Meinung und die tauschten wir lebhaft aus. Natürlich ging es immer wieder um die Haltung und die Taten der Besatzungsmächte, die ja nicht nur den österreichischen Alltag beeinflussten, sondern auch die Weltpolitik gestalteten. Und was Dichand und mich sehr beschäftigte, war die Frage, wie es mit Europa weitergehen werde.
Winston Churchill, der Premierminister, der Großbritannien durch den Krieg geführt hatte, hielt in Zürich eine Rede, die uns den Atem anhalten ließ: Europa werde nur dann eine große Zukunft haben, wenn es zur Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland komme. Diese Aussöhnung sei die Voraussetzung für die Errichtung der »Vereinigten Staaten von Europa«. Welch eine Vision! Und wie unglaublich sie doch klang, so kurze Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und in Anbetracht des gegenwärtigen Zustands Europas. Aber wie sie uns gerade deshalb begeisterte! Ja, das war der Weg, der Ausweg aus dem Zustand, in dem sich Europa und wir uns alle noch befanden, darin waren Polly, Dichand und ich uns einig. In diesem Redaktionszimmer der Wiener »Tageszeitung«.
Hier gab es auch andere Gespräche, eines, an das ich mich auch gut erinnere. Es wurde zwischen Dichand und Frau Prerovski geführt. Frau Prerovski war vor dem Krieg die Sekretärin des letzten Chefredakteurs der »Kronen Zeitung« gewesen. Sie schwärmte von dieser Zeit und schilderte die großen Erfolge dieser Zeitung in hellen Farben. Dichand war ein aufmerksamer Zuhörer und erklärte einige Male: »Die ›Kronen Zeitung‹, die müsste man neu gründen!« Und ich glaube, dass das damals schon sein Vorsatz war.
Ich werde noch schildern, wie es dann tatsächlich zur Gründung der »Kronen Zeitung« durch Hans Dichand kam. Aber wenn ich mich jetzt an unsere Diskussionen und unsere Europaträume erinnere, dann denke ich auch an das letzte Gespräch, das ich mit Hans Dichand hatte, bevor er starb. Wie war das zu vereinbaren, jenes Europa, das wir uns so wünschten, und der scharfe Kurs gegen die Europäische Union, den Dichand in der »Kronen Zeitung« eingeschlagen hatte? Seine Begeisterung für Europa, sagte Dichand, habe nie nachgelassen, sei heute so lebendig wie damals, doch mit der Union sei man, seiner Meinung nach, den falschen Weg gegangen.
Meine etwas heftig vorgetragene gegenteilige Meinung ertrug Dichand mit einem milden Lächeln. Da erinnerte ich mich: Dich and hatte die Gabe, für das, was ihn sein untrügliches »G’spür« für das Populäre vertreten ließ, jeweils eine Erklärung zu entwickeln, warum das auch richtig und rechtens sei. Und das vertrat er dann hartnäckig.
Die Wiener »Tageszeitung« gab es erst kurze Zeit. Sie wurde auf Wunsch Julius Raabs gegründet, der Präsident der Bundeswirtschaftskammer war. Ihm schwebte eine Zeitung vor wie die in der Schweiz erscheinende »Die Tat«, ein modern gestaltetes Blatt, liberal und international ausgerichtet, vor allem aber den schweizerischen Wirtschaftsinteressen dienend. Wie in der »Tat« gab es auch in der »Tageszeitung« nicht nur den Leitartikel, sondern auf Seite drei eine Spalte, in der drei bis vier Stellungnahmen zu aktuellen Tagesthemen erschienen – Polly nannte sie »Glossen«. Viele von ihnen galten Weltereignissen und der Politik der Besatzungsmächte, und diese Glossen wurden von der außenpolitischen Redaktion erstellt, hauptsächlich von Dichand und mir. Eine journalistische Spielwiese, wie sie nur wenigen Anfängern in diesem Beruf damals und bis heute geboten wurde und wird.
Ereignisse, über die zu berichten war, gab es genug. Europa und mit ihm Österreich steuerten auf den ersten Höhepunkt des Kalten Krieges zu. Der Marshallplan war angelaufen und sah, wie berichtet, eine enge wirtschaftliche Zusammenarbeit aller am Plan teilnehmenden europäischen Staaten vor. Diese war jedoch nur möglich, wenn die Volkswirtschaften der einzelnen Länder aufeinander abgestimmt werden, die Voraussetzung dafür waren gesunde Währungen.
Der österreichische Schilling aber ist krank. Ein Drittel des Staatsbudgets muss den Besatzungsmächten – mit Ausnahme der Amerikaner – für den Unterhalt ihrer Truppen in Österreich zur Verfügung gestellt werden, das heißt, die österreichischen Steuerzahler haben für die Besetzung ihres Landes aufzukommen. Jede der alliierten Mächte hat außerdem große Beträge von sogenannten Militärschillingen nach Österreich gebracht, Banknoten, die am Ende des Krieges in Großbritannien gedruckt und an alle vier künftigen Besatzungsmächte verteilt worden sind. Das Volumen dieses Besatzungsgeldes ist der österreichischen Regierung nicht bekannt, aber überall in Österreich muss der Militärschilling so wie der Zivilschilling als Zahlungsmittel akzeptiert werden. Da in Österreich die Produktion noch daniederliegt und nur wenige Güter erzeugt werden, gibt es daher eine starke inflationäre Entwicklung. Viel zu viel Geld bei viel zu wenigen Waren.
Die Regierung entschließt sich zu einer Abwertung des Schillings. Ein neuer Schilling wird geschaffen. Pro Person werden 150 alte gegen 100 neue Schilling eingetauscht. Alle Beträge darüber werden um zwei Drittel abgewertet, für drei alte Schillinge gibt es nur noch einen neuen. Hatten die Sowjets den Beitritt Österreichs zum Marshallplan gerade noch geduldet, so scheinen sie jetzt entschlossen, in Österreich wie in Deutschland den Währungsreformen entgegenzutreten. Der einzige kommunistische Minister in der österreichischen Regierung, Karl Altmann, stimmt – im Gegensatz zu früher beim Marshallplan – dem Abwertungsgesetz nicht zu und tritt zurück. Im Zentralorgan der österreichischen Kommunisten »Volksstimme« erscheint in großen Lettern die Schlagzeile »Erregung, Erbitterung, Empörung«, und drohend veröffentlicht die Zeitung eine Namensliste: »Die Männer, die das ausgepackelt haben – Namen, die man sich merken muss«. Das ist zu jener Zeit unter Umständen keine leere Drohung, denn wie wir es bald erleben, werden Menschen in führenden Wirtschaftspositionen dem Druck der Straße und auch dem der Besatzungsmacht ausgesetzt.
Auch in den drei westlichen Zonen Deutschlands, die ebenfalls am Marshallplan teilnehmen und als Trizone Mitglied der OEEC sind, wird die Reichsmark abgeschafft und an ihrer Stelle die Deutsche Mark eingeführt. In Deutschland allerdings zum Wechselkurs von 10:1 – was die D-Mark von Anfang an sehr stark macht. Nun harrt man in Österreich und in Deutschland der Dinge, die da noch kommen dürften, die Reaktion der Sowjetunion und deren Auswirkungen. In Österreich fällt sie überraschend milde aus: Die Sowjets würden im Alliierten Rat keinen Einspruch erheben, wenn sie, anders als die anderen Besatzungsmächte, ihre großen Vorräte an Reichsmark – nicht wenige vermutlich aus der Sowjetzone in Deutschland – nicht im Verhältnis 3:1, sondern 1,75:1 tauschen dürfen. Die Sowjets lassen sich ihre Zustimmung also abkaufen! Das wird auch für die Staatsvertragsverhandlungen noch sehr interessant sein.
In Deutschland warnen die Sowjets davor, die drei westlichen Sektoren in Berlin in die Währungsreform einzubeziehen. Doch das bestimmen nicht die Deutschen, die noch keine Regierung haben, sondern die drei Westmächte. Die erkennen die Gefahr: Geben sie in der Währungsfrage in Berlin nach, ist Westberlin vermutlich bald verloren. So bleiben sie hart – auch in Westberlin gilt nun die D-Mark.
Doch hier denken auch die Sowjets nicht daran nachzugeben. Denn auch sie wissen, wird Westberlin einbezogen in die Wirtschaftsgemeinschaft des Westens und Teil der im Marshallplan vorgesehenen europäischen Integration, so schwindet die Hoffnung Moskaus auf eine gesamtdeutsche Lösung nach sowjetischen Vorstellungen, wie sie Moskau immer wieder bei den Verhandlungen mit den Westmächten zum Ausdruck gebracht hat: ein Gesamtdeutschland, dessen Schicksal von der Sowjetunion mitbestimmt werden müsse. So reagieren die Sowjets auf die Einführung der D-Mark in Westberlin mit einer Blockade aller Zufahrtsstraßen und Eisenbahnstrecken, die von Westdeutschland nach Westberlin führen. Ab sofort können weder Menschen noch Waren die Sowjetzone nach Westberlin durchqueren, ausgenommen die Militärfahrzeuge der Alliierten.
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