Drache und Diamant. Barbara CartlandЧитать онлайн книгу.
welche Wirkung das Bild von Hung Hsien auf ihn ausübte, als der Diener zurückkehrte.
»Mannigfaltige Freude will Sie empfangen, verehrter Herr«, sagte er und verbeugte sich.
Durch ein Labyrinth von Gängen und Wegen, vorbei an Pavillons von Frauen mit verwirrenden Namen, folgte er dem Diener.
Dieser führte ihn beinahe durch das ganze Haus, ehe er Stanton Ware in einen sparsam möblierten, sehr edel wirkenden Raum geleitete.
Vor den Fenstern hingen Vorhänge aus kostbarer Seide, bestickt mit Adlern und Drachen, auf dem Boden standen Bonsaibäumchen in Porzellantöpfen.
Doch Stanton Ware hatte nur Augen für die Frau, die soeben eintrat. Ein forschender Zug lag auf ihrem geschminkten Gesicht, der jedoch sofort einem erfreuten Lächeln wich.
Sie verbeugte sich tief und sagte lächelnd: »Ich hoffte, daß Sie es sein würden, ehrenwerter Herr, doch nach der Beschreibung des Dieners konnte ich nicht ganz sicher sein. Sie, den ich so lange vermißt habe.«
Stanton Ware warf die Kapuze zurück und löste den Verschluß am Hals.
Der Diener, der ihm den Mantel abnahm, bewegte sich so geräuschlos, daß Stanton Ware das Gefühl hatte, von Geisterhänden berührt zu werden.
Dann setzte er sich auf eines der flachen Sitzkissen, vor dem ein Glas Samshu stand.
»Sie waren lange fort«, begann Mannigfaltige Freude.
In ihrer Stimme lag kein Vorwurf, nur Bedauern.
»Ich bin gekommen, weil ich spüre, daß es Schwierigkeiten geben wird.«
»Ich ahnte, daß Sie deswegen zu mir kommen.«
»Ich wäre ohnehin gekommen«, entgegnete er wahrheitsgemäß, »doch jetzt brauche ich Ihre Hilfe.«
»Was möchten Sie wissen?«
»Müssen Sie das fragen? Was geht in China vor? Was bedeuten all diese Unruhen, die von Monat zu Monat bedrohlicher werden?«
»Sie haben recht. Sie sind tatsächlich bedrohlich. Ich hätte wissen sollen, daß Sie früher oder später kommen würden, um etwas zu unternehmen.«
»Und was kann ich tun?«
»Wir alle wissen, daß das Jahr 1900 unter unglücklichen Vorzeichen stand«, erwiderte Mannigfaltige Freude leise.
»Genau darüber wollte ich von Ihnen Auskunft.«
»Die Astrologen sehen sehr böse Vorzeichen«, erwiderte sie, »und die Hellseher weissagen nicht nur viel Blut, sondern eine Katastrophe für China.«
»Was für eine Katastrophe?« fragte Stanton Ware.
Er wirkte entspannt, als er von dem Samshu trank, der ihm ausgezeichnet schmeckte.
Doch zugleich war sein Kopf hellwach, und er war sich bewußt, daß Mannigfaltige Freude ihm mehr Informationen als jeder andere geben konnte.
Das »Haus der tausend Freuden« war das exklusivste, teuerste und wichtigste Bordell in ganz China.
Bevor ihn seine Tante im Ying T’ai oder Meerespalast gefangensetzen ließ, soll der Kaiser selbst angeblich häufig inkognito Gast im »Haus der tausend Freuden« gewesen sein.
Auch die meisten Angehörigen des Kaiserhofs und die Mandarine gehörten mit Sicherheit zu seinen Stammgästen.
Es kursierten blühende Geschichten über die Freuden, die diejenigen erwartete, die die Gastfreundschaft von Mannigfaltige Freude in Anspruch nahmen.
Nach reichlichem Alkoholgenuß war mancher Mann geneigt, den unvergleichlich liebenswürdigen und verständnisvollen Mädchen sogar Staatsgeheimnisse anzuvertrauen.
Stanton Ware war oft gefragt worden, warum nahezu jeder Mandarin und jeder Angehörige des Kaiserlichen Hofes an Frauen, wie sie im »Haus der tausend Freuden« anzutreffen waren, interessiert war.
»Sie haben doch ohnehin alle ihre Konkubinen«, war ein unvermeidliches Argument.
Doch weder die Konkubinen in der Verbotenen Stadt noch die der reichen Mandarine und Kaufleute hatten Kontakt zur Außenwelt.
Ihr ganzes Leben, ihr ganzes Interesse drehte sich um ihren Herrn, und - abgesehen von der Schönheit ihrer Körper - hatten sie nicht viel zu bieten und waren häufig ausgesprochen dumm.
Die Mädchen im »Haus der tausend Freuden« jedoch waren nicht nur ihrer Schönheit, sondern auch ihrer Intelligenz wegen ausgewählt worden.
So kam es, daß Mannigfaltige Freude eine der bestinformierten Frauen in ganz Nordchina war.
»Bitte, sagen Sie mir, wie die Dinge stehen«, bat Stanton Ware.
Der Klang seiner Stimme und das Lächeln, das auf seinen Lippen lag, mußten auf jede Frau unwiderstehlich wirken.
»Sie sind unverbesserlich, edler Herr«, antwortete Mannigfaltige Freude lachend. »Sie kommen und gehen, wann und wie es Ihnen gefällt, und ich habe keine Ahnung, ob Sie noch am Leben sind oder nicht. Dann kommen Sie wieder und quetschen mich aus wie einen Granatapfel.«
Stanton Ware ergriff ihre Hand und zog sie an seine Lippen.
»Sie haben mich nie enttäuscht in all den Jahren, seit wir uns kennen«, entgegnete er, »und ich kann nicht glauben, daß Sie es jetzt tun werden.«
Sie stieß einen leisen Seufzer aus.
»Ich fürchte, es ist unmöglich, Ihnen etwas abzuschlagen, selbst wenn ich es wollte. Was wollen Sie wissen?«
»Alles«, antwortete er. »Wie Sie wissen, war ich über zwei Jahre fort von China, und manches hat sich geändert.«
»Das stimmt allerdings, und zwar zum Schlechten.«
»Ich hörte davon, bevor ich England verließ.«
»Sie wissen, daß der Fortschritt in China zum Stillstand gekommen ist? Die Witwe des Kaisers hat die Westmächte davon in Kenntnis gesetzt, daß keine weiteren Eisenbahnstrecken mehr gebaut werden dürfen, und es wäre daher sinnlos für ausländische Repräsentanten, entsprechende Vorschläge zu unterbreiten.«
»Ich habe davon gehört«, murmelte Stanton Ware.
»Keine Eisenbahnstrecken - kein Fortschritt.«
»So ist es.«
»Ihre Majestät war lediglich zu Verhandlungen über Waffen und Kriegsgeräte mit den Westmächten bereit.«
Wieder nickte Stanton Ware.
»Sie hat die Generäle angewiesen, westliche Techniken zu übernehmen und westliche Waffen zu kaufen. Wissen Sie, warum?« fragte Mannigfaltige Freude.
»Sie werden es mir sagen«, erwiderte er.
»Um die Fremden aus China zu vertreiben!«
»Ich bezweifle, daß China die Kraft dazu besitzt«, sagte Stanton Ware langsam.
»Aber Sie verfügen hier nicht über genügend Waffen und Truppen, um die Flut aufzuhalten, wenn sie losbricht«, entgegnete Mannigfaltige Freude.
Das war auch Stanton Ware klar, doch es überraschte ihn, daß Mannigfaltige Freude so genaue Kenntnis der Lage besaß.
»Die Kaiserin streut den Fremden Sand in die Augen«, fuhr sie mit leiser Stimme fort, »doch die Boxer hetzen die Massen auf, sich ihnen anzuschließen, und schreien ständig: ,Brennt alles nieder! Tötet sie, tötet!'«
»Wie stark sind sie?« wollte Stanton Ware wissen.
»Männer können kämpfen, wenn sie Vertrauen haben«, antwortete Mannigfaltige Freude, »und mit ihren angeblichen Zauberkräften gelingt es den Boxern, die Leichtgläubigen zu überzeugen, mit Musketen und Pfeilen, die einen in Trance Befindlichen zwar durchbohren, aber nicht verletzen.«
Als Stanton Ware nichts erwiderte, fuhr sie fort: »Und sie verbreiten Gerüchte, die die