Fontanes Kriegsgefangenschaft. Robert RauhЧитать онлайн книгу.
in Kriegsgefangen übernimmt: das Ganze eine schwächliche conventionelle Leistung.[20] Entlarvender als die Notizen ist jedoch ein Hinweis im gedruckten Text, den Fontane schlichtweg übersehen haben muss. Auf dem späteren Transport zur Zitadelle von Besançon traf er einen jener Herren, die seine Verhaftung vor dem Hause der »Pucelle« herbeigeführt […] hatten.[21] Wo also wurde Fontane verhaftet: vor der Kirche oder vor dem Geburtshaus der Jeanne d’Arc? So viel vorweg: weder noch.
Fraglich ist auch, wie sich Fontane verdächtig machte. Dass er sich als Tourist durch Domrémy bewegte, war für die Einheimischen unschwer zu erkennen. Und dass er vor und in den Jeanne-d’-Arc-Orten in einem Notizbuch schrieb und skizzierte, war vielleicht ungewöhnlich – aber wies ihn das als einen Spion aus? Und wer hat ihn überhaupt beobachtet? Die Acht bis zwölf Männer, die ihn festnahmen, können es nicht gewesen sein, wenn sich das Gasthaus Café de Jeanne d’Arc in dem heutigen Hotel Jeanne d’Arc befunden haben sollte, wofür die Ähnlichkeit des Namens sprechen würde. Eine Überprüfung vor Ort ergibt: Die Sicht aus den Fenstern ermöglicht einen Blick auf die Straße oder auf die Seitenwand der Kirche. Aber es war unmöglich, Fontane beim Abklopfen der Statue vor der Kirche zu beobachten. Vom Wirtshaus erst recht nicht zu sehen war, wer sich vor der Geburtsstätte der »Pucelle« aufhielt, weil sich das Haus zurückversetzt neben der Kirche befindet.
Dass sein Kutscher, der nicht zum ersten Mal einen Jeanne-d’Arc-Touristen chauffierte, ihn nicht verraten hatte, hebt Fontane ausdrücklich hervor. Wer war es dann? Eine naheliegende Antwort klingt zunächst einmal verstörend: Fontane selbst. Aber mit Sicherheit unbeabsichtigt.
Und so könnte sich die Verhaftung tatsächlich abgespielt haben: Nachdem die entzückende Fahrt hinter die Front völlig problemlos verlaufen war, er alle Jeanne-d’-Arc-Stätten ungehindert besichtigen und in Vaucouleurs in einem öffentlichen Etablissement sogar frühstücken konnte, hatte Fontane – ungeachtet seines düsteren Eindrucks von Domrémy – vermutlich keine Bedenken, auch das Café de Jeanne d’Arc aufzusuchen, vor dem der Wagen ohnehin gehalten hatte und in dem sich sein Kutscher aufhielt. Bemerkenswert in Kriegsgefangen ist die ausführliche Schilderung, wie Fontane den Dorfbewohnern, deren Zahl von Minute zu Minute wuchs, seine Mission zu erläutern versucht. Wurde er befragt? Erzählte er von selbst? Wie auch immer: alles [wurde] wohl aufgenommen. Misstrauisch wurden die angetrunkenen Gasthausbesucher erst, als durch einen Zufall Fontanes Waffen zum Vorschein kamen. Nachdem die Stimmung ziemlich hoch ging, wurde der bedrängte Fremde vermutlich von einem Franctireur gefragt, ob er damit einverstanden sei, dass man ihn nach Neufchâteau auf die Souspräfektur führe.
Für die Version, dass Fontane im Gasthause verhaftet wurde, spricht außerdem ein korrektes Detail, das womöglich versehentlich in Fontanes Geschichte geraten – oder im Text stehen geblieben ist: In Kriegsgefangen erwähnt er, dass er vor dem Verlassen des Wirtshauses seine Rechnung bezahlte. Dass er nicht nur (mit-)getrunken, sondern auch gegessen hatte, belegt die Verwendung des Begriffes Zehrung. Unwahrscheinlich ist es, dass damit Wein und Reimser Biskuit gemeint sind, die bei dem Gelage herumgegeben wurden. Daher ist es unglaubwürdig, dass man Fontane vor dem Denkmal verhaftete, ihn anschließend in das Gasthaus abführte, um seine Person und seine Reiseberechtigung zu überprüfen[22], und ihn dann in aller Ruhe trinken und speisen ließ.
Ungeachtet dessen gilt es im Kontext der Verhaftung gleich mit einer zweiten Legende aufzuräumen. In nahezu allen Veröffentlichungen über Fontanes Kriegsgefangenschaft wird behauptet, der Dichter sei von Franctireurs festgenommen worden. Das Buch Kriegsgefangen enthält dazu widersprüchliche Hinweise: Zum einen schreibt Fontane (in einem anderen inhaltlichen Zusammenhang), dass er von einer Franctireurschaft verhaftet wurde.[23] Zum anderen ist bei der konkreten Schilderung seiner Festnahme nur von einer Gruppe von Acht bis zwölf Männern die Rede. Und im Gasthaus, wohin ihn die Männer brachten, wurde ihm kein Franctireur-Anführer gefährlich, sondern der betrunkene Maire [Bürgermeister].[24] Übereinstimmend in beiden Textstellen ist dagegen, dass ihn im Wirtshaus Franctireurs vor den Insulten [Beschimpfungen] des Dorfpöbels gerettet hatten.[25] Wer hat Fontane nun verhaftet: die Dorfbewohner von Domrémy (Dorfpöbel) oder die Franctireurs? Eine Antwort gibt sein handgeschriebener Lebenslauf, den er für den französischen Innenminister in Vorbereitung auf seine Freilassung verfassen musste. Demnach haben ihn keine Franctireurs verhaftet, sondern: Landleute.[26] Fontane hat diesen Aspekt seiner Festnahme später nicht aufgeklärt. Wie so einiges andere auch nicht. Für die Folgen seiner Festnahme und angesichts der Lebensgefahr, in der er nun schwebte, war es allerdings nicht entscheidend.
Für die erzählerische Darstellung der Verhaftung jedoch konstruierte er eine Szene, die einfach zu schön ist, um wahr zu sein. Wie heißt es doch über die letzte Viertelstunde seiner romantischen Reise: alles war Poesie.
FURCHTBARE ÄNGSTE In Gewahrsam
Nächtliche Attacke
Seit gestern bin ich ein Gefangener, schrieb Fontane am 6. Oktober 1870 an seine Frau. In Domremy, eben in voller Jean d’Arc-Bewunderung, wurde ich verhaftet. Man habe ihn für einen verkappten preußischen Officier gehalten.[1] Den Brief verfasste er in Langres, als er die erste schlimme Nacht bereits hinter sich hatte. Nach seiner Verhaftung in Domrémy, erzählt Fontane in Kriegsgefangen, war er zunächst nach Neufchâteau gebracht worden, wo er Monsieur Cialandri vorgeführt wurde. Der Souspräfekt bedauerte, Fontane unter den gegebenen Umständen nicht ohne weiteres in Freiheit setzen zu können. Und erklärte ihm, der Capitaine der Gendarmerie, nach dem er bereits geschickt habe, werde das Weitere veranlassen. Alles in allem, vermutete Fontane, schien die Situation nicht hoffnungslos.
Dass er sich geirrt hatte, zeigte der Auftritt des Capitaine. Der Offizier nahm den Bericht des Souspräfekten entgegen, warf dann und wann ein kurzes Wort ein und blickte, scharf musternd, mit seinen dunklen Augen zu Fontane herüber. Der hielt dem Blick des Capitaine stand, weil er sich nicht provozieren lassen wollte, weil er sich unschuldig fühlte und weil er davon überzeugt war, dass man durch Sichkleinmachen noch nie das Herz eines Feindes erobert hat.
Schließlich wandte sich der Capitaine mit einigen Fragen an Fontane, der erneut entschieden verneinte, ein officier prussien zu sein. Aber es gelang ihm nicht, den französischen Offizier von seiner Unschuld zu überzeugen, geschweige sein Herz zu erobern. Fontane wurde wieder abgeführt – diesmal direkt in das Gefängnis der Stadt, ein weitschichtiges Gebäude, wo ihn der Capitaine zunächst in die Wohnung des Greffier [Gerichtsschreibers] von Neufchâteau brachte. Als der Greffier sich erhob und ihnen entgegenschritt, war Fontane wie vom Donner getroffen. Vor ihm stand das leibhaftige Ebenbild seines Vaters, der vor drei Jahren, fast um dieselbe Stunde, verstorben war. Hier sah er ihn wieder, frisch, lebensvoll, hoch aufgewachsen, mit breiten Schultern und großen Augen, im Auge jene Mischung von Strenge und Gutmütigkeit, wie sie ihm eigentümlich gewesen war. Bevor Fontane über die Sinnestäuschung nachdenken konnte, wurden letzte Zweifel beseitigt, in welcher Lage er sich befand. Der Capitaine übergab ihn dem Gerichtsschreiber, der den wohlklingenden Namen Mr. Palazot führte, verbeugte sich mit einem Anflug von Ironie und ließ ihn mit seinem Hüter allein. Fontane war jetzt Gefangener.
Nachdem er Uhr und Geld und kleines Perlmuttermesser, das gerade ausgereicht haben würde, einen Maikäfer zu ermorden, bei ihm deponiert hatte, stellte Monsieur Palazot die üblichen Fragen und machte sich Notizen. Dann wurde Fontane zu Tisch gebeten und entkam der immer lebhafter werdenden Debatte gegen neun Uhr, als ihn eine völlige Erschöpfung überfiel und er bat, in sein Zimmer geführt zu werden. Er glaubte, wirklich Zimmer gesagt zu haben. Tatsächlich trug es die Inschrift »chaot« – Gefängnis. Als ihm der übliche Gefängnisapparat – der Schemel, der Wasserkrug, das eiserne Bett – gewahr wurde, musste er lächeln und sprach vor sich hin: alles echt. Das Ganze hatte zudem nichts Abschreckendes. Die Wände waren weiß, die Laken sauber, durch das breite Gitterfenster fiel