Zwischen den Rassen. Heinrich MannЧитать онлайн книгу.
fragte sie oft. »Wie sympathisch ist Herr Soundso!« Und Lola gab dies zu, weil die Worte, die ihre Verachtung des Herrn Soundso enthielten, ihr selbst den Hals zuschnürten. Aber war es möglich, etwas anderes zu fühlen für jemand, der unter allen Damen nur einer die Hand küsste, und zwar der, die den höchsten Titel führte? Oder für einen anderen Herrn Soundso, der auch sympathisch sein sollte und der dem Kellner nur zwei Glas Kognak eingestand, wenn er drei getrunken hatte? So war die Menschheit; umso schlimmer für den, der nicht die Gabe hatte, davon abzusehen.
»Du hast dich schwer getrennt«, meinte Mai herzlich. »Warum warst du nicht aufrichtig mit mir? Sage doch, bitte, bitte, an wen du denkst!«
»An niemand besonders, ich versichere dich.«
Und sie versank in immer trüberen Zorn. Wär’s noch ein einzelner gewesen, an dem sie litt! Aber der, den sie zurückgelassen hatte, war nichts. Nicht seinetwegen erduldete sie nun dieselbe schwere Einsamkeit, die ihre frühen Mädchenjahre verbittert hatte. Nur erinnert hatte er sie daran, wie vor ihm andere seiner Rasse und Art, dass allein ihre Sinne einen Gefährten finden konnten; dass in keinem Lande Menschen erwüchsen, die ganz ihresgleichen waren; dass sie in der Seele allein war … Sie sah ins Wasser und sehnte sich: »Wer einer Heimat entgegenführe!«
Sie hatte eine gehabt, eine Wahlheimat, die Schritt für Schritt zu erobern gewesen war: ihre Kunst. Und auch aus der war sie verstoßen; denn die Branzilla saß in der Nervenheilanstalt.
Die Branzilla war eine der allerletzten Lehrerinnen des Belkanto.1 Ein berühmter Geiger hatte zufällig Lolas Altstimme entdeckt, den Umfang und die Stärke der Stimme bestaunt, hatte Lola eine unermessliche Zukunft verheißen und nicht geruht, bis sie zur Branzilla reiste. Wie Lola ins Zimmer trat, machte die Alte gerade ihrem Mann eine Szene, dem angebeteten Tenor von einst, der nun fett, leer und ängstlich umherschlich. Sie warf ihm seine alten Geliebten vor, das Unrecht, das er ihr bei dem und dem vor dreißig Jahren gesungenen Duo getan habe, und dass er ihr zur Last liege. Sooft Lola das Paar beisammen traf, war’s das gleiche: der Alte flüchtete, die Augen gen Himmel gerollt – und als Lola einmal nach Beendigung der Stunde das Vorzimmer öffnete, da hing er an der Decke … Und nun ihre Bosheit sich auf den Mann nicht mehr ausleeren konnte, bespie die Alte damit alle Welt, vertrieb die letzten Schülerinnen, brachte Lola bis zu Tränenkrisen. Aber mochte Mai sich empören, Lola blieb ihrer Tyrannin treu, folgte ihr blindlings in alle die Hauptstädte, wo die Branzilla ehemals gefeiert worden war und wo sie nun das unbekannte Dahinleben nicht ertrug, schlichtete die Streitigkeiten, die die Alte in den Hotels, den Geschäften und überall anzettelte, sorgte für sie, ließ sie ihre kopflosen Ungerechtigkeiten herunterkeifen und schloss den Auftritt mit einem festen und doch geduldigen »Adieu, Madame« – worauf sie zur genauen Stunde wiederkehrte. Statt einem Gesetz, einem Befehl, die ihr Leben nicht kannte, unterwarf sie sich den Launen einer Hexe; und ihre Zickzackfahrten durch Europa waren nicht planlos, da sie hinter der herführten, in der, wie in einer Ruine, der Geist einer großen, fast schon entschwundenen Kunst hauste.
Denn das arme, täglich verwirrtere Gehirn der Branzilla schien wunderbar genesen, wenn sie den Stoff unter den Händen hatte, aus dem sie schuf. Der Stoff war die Stimme der Schülerin. Lola war sich bewusst, sie selbst sei nichts, sei nicht mehr als ein dumpfes Werkzeug, und was aus ihr werden solle, sei im Geist der Lehrerin schon aufgebaut, wie ein Tempel aus Luft, unfassbar für jeden, vertraut nur ihr, die ihn durch eine Gebärde, ein Wort, durch einen der kindlich mystischen Ausdrücke, die die Seher finden, für eine Sekunde vor die Schülerin hinzaubern konnte, sodass Lola sah: dort hinan! Wer vermochte das noch: durch ein Wort, ein eigenes, dem nichts Wirkliches entsprach, das richtige Spiel eines Kehlkopfes bewirken! Niemand wusste mehr von dieser Kunst. Bei den Heutigen waren Lehrerinnen unbeliebt, die zwei Jahre brauchten. Und die Ausbildung währte ehemals acht. Lola hätte es, einmal in der Schule der Branzilla, nicht mehr ausgehalten, sich mit einem Ungefähr zu begnügen. Sie war fremd überall, und nur mit einer alten halb Irren hielt sie Gemeinschaft; aber eines Tages wollte sie im Besitz einer unerhörten Kunst vor die Welt hintreten!
Und in jedes Gasthaus brachte sie eine eigene Luft mit, machte jedes flüchtige Quartier heimisch, in das sie ihre Gesänge, die seit Jahren geübten, schickte. Aus der Unordnung der hastig umhergeworfenen Gegenstände, der zerstreuten Stunden, der regellosen Vergnügungen und der zufälligen Menschen rettete sie sich in den Winkel, wo das Klavier stand, wie auf ihr eigenes Stück Erde. Von hier würde sie alles Land erobern! Würde unabhängig, würde Fürstin sein, der die Herzen schlagen. Wie hochgemut und stark sie, indes die anderen, alle zum Untergang bestimmt, leere Worte redeten, Ränke, Liebeleien vergeudeten, mit sich selbst umgingen wie mit Wertlosigkeiten. Wie hochgemut, stark und voll Verachtung sie an sich arbeitete! Ihre Heimat erweiterte! … Aber man lockte sie daraus fort; die Überflüssigen umschwärmten sie. Umsonst übte sie tagelang mit ihrem Taktzähler: der Schwarm der Festlichen übertäubte das Ticken der kleinen strengen Maschine. Eine Wallung von Leichtsinn, und Lola war mitten darin, ging unter in der Jagd der nach Freude Fiebernden. Dann trat der Mann auf: einer derer, die sie im Blut hatte, die sie nicht vermeiden konnte – und die Kunst lag unbegreiflich dahinter … Eines Tages stand sie dann wieder am Klavier neben der Alten, deren Stimme hart und böse war; und der Tag hatte bleiches, schmerzendes Licht, wie einer nach durchtobter Nacht, der reuebeladen ist und den man lieber verschliefe. Und oft, wenn so ihre Tage in einer luxuriösen Landstreicherei zerflossen, dachte sie mit Neid aller Angebundenen, Behüteten, in einen engen Kreis von Pflicht und Gemeinschaft Geschlossenen. An ihrer Stimme, die so kostbar war, trug Lola, wie jemand an einem Klumpen Gold in einer Wüste. Andere saßen in heimlicher Werkstatt und bearbeiteten ihn …
Und dann war die Branzilla verschwunden. Es war geschehen, wie Lola das letzte Mal sie wochenlang allein gelassen hatte. Lola hatte es mit Zorn erfahren. War denn der Rest Kraft, den die Alte ihr noch zu geben hatte, schon verbraucht? Die Branzilla mochte verrückt sein, wie sie wollte: sie blieb die einzige, die Lolas Stimme beherrschte, die ihre Stimme sah. Dazu taugte sie noch, dazu sammelte sich noch ihre Vernunft. Lola sagte dies den Leuten, die sie ihr weggenommen hatten. »Lasst sie doch verrückt sein, es ist meine Sache! Ich bin sie gewohnt, wie sie ist, und werde sie behüten. Gebt sie mir zurück!« Umsonst: die Lehrerin blieb verloren – und Lola wusste sogleich, nun sei’s zu Ende. Die Methode der Branzilla ließ einen unselbstständig bis zuletzt. Lola war ohnmächtig ohne ihre Führerin. Der Weg zur Kunst, in diese neue Heimat, war verloren.
So, aus Ratlosigkeit, Haltlosigkeit geriet sie nach Barcelona,