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Zwischen den Rassen. Heinrich MannЧитать онлайн книгу.

Zwischen den Rassen - Heinrich Mann


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sein gan­zes Un­glück und ver­schaff­te sei­nen Au­gen den An­schein von See­le. Sie ver­lang­te das Ho­spi­tal zu se­hen. Es sei zu trau­rig dort, er­wi­der­te er, für eine jun­ge Dame, die selbst nicht hei­te­ren Ge­mü­tes schei­ne. Ob er sie un­ter­hal­ten dür­fe. Er be­gann von sich selbst zu er­zäh­len, ein­fa­che und wah­re Din­ge, de­nen sie mit Ach­tung zu­hö­ren konn­te. Noch mehr­mals im Lauf des Abends nä­her­te er sich, tat ihr wohl durch gü­ti­ge und ge­las­se­ne Rede; und so­oft Lola ihn bat, ihr sei­ne Kran­ken zu zei­gen, wei­ger­te er sich.

      Aber das Wet­ter ward hel­ler; nun stürm­te es. Mai lach­te mit den Fröh­li­chen; dann schlich sie zu Lola und flüs­ter­te:

      »Glaubst du, dass es ge­fähr­lich ist?«

      Und Lola ging mit ihr, da­mit Mai sähe, man habe das Recht, lus­tig zu sein.

      Die Nacht ward aus­ge­las­sen. Die Nähe Ita­li­ens, die Be­frie­di­gung, wie­der in den hei­mi­schen Ge­wäs­sern zu fah­ren, die leich­te Furcht bei dem be­droh­li­chen Schwan­ken und in­mit­ten der ge­mein­sa­men Ge­fahr die Aus­sicht, schon mor­gen aus­ein­an­der­zu­ge­hen, sich nie wie­der­zu­se­hen, das be­wirk­te in al­len Wohl­wol­len und Leicht­sinn. In der Ka­jü­te fie­len die Stüh­le um; man tau­mel­te ein­an­der in die Arme, um sich im Krei­se zu dre­hen zu dem Ge­kratz der wa­ckeln­den Mu­si­kan­ten. Lola er­hob ih­ren Kelch und trank ei­nem zu, ei­nem mit ei­ner großen Ha­bichts­na­se und lus­tig blin­zeln­den Au­gen – ei­nem all de­rer, die Mai sym­pa­thisch fand und ge­gen die jetzt auch Lola nichts mehr ein­wand­te: da sah sie einen Schat­ten auf der Trep­pe. Sie ließ den Arm sin­ken. Das freud­lo­se Ge­sicht des Dok­tors kam auf sie zu. Mit ei­nem Vor­wurf in der Stim­me und ei­nem um Ent­schul­di­gung bit­ten­den Lä­cheln frag­te er:

      »Wol­len Sie jetzt das Ho­spi­tal se­hen?«

      Lola fuhr zu­sam­men, wie er­tappt, wie auf ei­nem Ver­rat be­trof­fen.

      »Er er­in­nert mich dar­an«, be­merk­te sie, »dass wir zu­sam­men trau­rig wa­ren.« Sie senk­te den Kopf und folg­te ihm. Dann, em­pört: »Wie darf er ver­lan­gen, dass ich es blei­be! Da­mit er mich trös­ten, mir wohl­tun kann. Oh! Al­les auf die­ser Welt ist Ei­gen­nutz und Grau­sam­keit.«

      Drau­ßen peitsch­te sie der Wind; das end­lo­se Dun­kel heul­te um sie her; es griff nach ihr, mit den ge­spens­tisch her­auf­schie­ßen­den Ar­men sei­ner Gischt­wel­len. Ihr Füh­rer nahm sie bei der Hand und ließ sie über Staf­feln hin­ab­stei­gen, tief in das Schiff hin­ein. »Da sind wir«; und in der Tür, die er auf­s­tieß, misch­te sich Kar­bol­dunst mit dem Schiffs­ge­ruch. »Kom­men Sie nicht?« Aber Lola späh­te von der Schwel­le mit Furcht durch die Ka­bi­ne, die ei­nem Schacht glich, zu den Men­schen hin, die in ih­ren Bet­ten, eng wie Sär­ge, um­her­ge­schüt­telt stöhn­ten, und zu de­nen, die, in Lum­pen am Bo­den hockend, er­lo­sche­ne Bli­cke zu ihr auf­ho­ben. Je­ner eine Blick aber glänz­te so, dass von ihm der Raum voll ei­nes fla­ckern­den Lich­tes schi­en. Die­se bei­den Au­gen brann­ten auf un­be­greif­li­che Wei­se in ei­nem Ge­sicht, so alt und müde, dass viel­leicht nur das rote Tuch, wo­mit es um­wi­ckelt war, sei­nen aus­ein­an­der­stre­ben­den Staub zu­sam­men­hielt.

      »Wer ist das? Mein Gott!«

      Der Arzt hör­te sie nicht; er neig­te sich über den Al­ten, lausch­te in sein Ge­wim­mer hin­ein, dann be­schrieb er, lang­sam auf­ge­rich­tet, eine fei­er­li­che Ge­bär­de.

      »Sie wer­den Ihre Hei­mat wie­der­se­hen. Ich wer­de ma­chen, dass Sie es er­le­ben.«

      Rasch wand­te er sich ab.

      »Ge­hen wir.«

      Drau­ßen:

      »Die­ser Alte ist jung nach Ame­ri­ka ge­gan­gen. Die Ar­beit sei­nes Le­bens hat ihm so viel ein­ge­tra­gen, dass er vor sei­nem Tode noch­mals die Über­fahrt be­zah­len konn­te. Er will auf sei­ner Hei­ma­t­er­de ster­ben. Das ist sein Ziel. Da­für meint er nun ge­lebt zu ha­ben.«

      »Wird er’s er­rei­chen, wird er?«

      »Nein«, ent­schied der Dok­tor, mit lei­se­rer Stim­me und Schul­tern, die sich beug­ten. »Wir wer­den mor­gen in Ge­nua lan­den, im ma­je­stä­ti­schen Ge­nua; aber er wird es nicht se­hen. Ich kann es nicht ma­chen. In die­sem Au­gen­blick lebt er nur noch durch den einen Ge­dan­ken in sei­nem Kopf, in sei­ner Hei­mat zu ster­ben.«

      Vor der Trep­pe zu den Ge­sell­schafts­räu­men nahm er plötz­lich Ab­schied und tauch­te ins Dun­kel. Lola sah mit Ver­wun­de­rung, dass dort in­nen noch der glei­che kopf­lo­se Ju­bel tobe, und ging in ihre Ka­bi­ne. Sie lag im Dun­keln – und das Wim­mern da­hin­ten, sie wuss­te nicht, war es das der Gei­gen oder das je­nes Ster­ben­den. Sei­ne Au­gen ver­lie­ßen sie nicht, ihre Stirn war er­füllt von die­sem über­mensch­li­chen Feu­er, das mit Über­win­dung ei­nes ab­ster­ben­den Lei­bes ganz frei da­hin­brann­te, das nur ein Ge­dan­ke, ein Wil­le, eine Sehn­sucht war: die Sehn­sucht nach der Hei­mat.

      Und sie sah ihn, wie er jung aufs Schiff stieg. Die Ja­cke über der Schul­ter, den Hut im Na­cken; über­mü­tig trotz der Rüh­rung küss­te er ein letz­tes Mal El­tern, Ge­schwis­ter und das Mäd­chen, das ihm treu blei­ben woll­te. Hat­te Lola ihn nicht drü­ben aus­stei­gen ge­se­hen, oder einen, der ihm glich? Ita­lie­ner in ro­ten Hem­den, die Ja­cke über der Schul­ter, wa­ren so vie­le dort um­her­ge­gan­gen. Sie hör­te ihn sei­ne Früch­te aus­schrei­en, sah ihn an ei­nem Kanu zim­mern und stand am Wege, wie er sein Maul­tier mit Wa­ren vor­bei­trieb. Denn er han­del­te mit al­lem, hielt kei­ne Ar­beit für zu schlecht, leb­te nüch­tern und schrieb Brie­fe, worin ein we­nig Geld lag: »Mut! Bald kann ich euch nach­kom­men las­sen. Car­lot­ta, ich seh uns schon in der Kir­che.« Dar­über ster­ben die El­tern; aber er hat noch die Ge­schwis­ter, und Car­lot­ta war­tet auf ihn. Er spricht nicht mehr vom Nach­kom­men; es geht nicht al­les, wie er dach­te; nur zu­rück­le­gen möch­te er eine Klei­nig­keit und dann heim­kom­men … Wie? Wäre es mög­lich? Car­lot­ta nimmt nun doch den an­de­ren? Sie ist im­stan­de, ihn zu ver­ra­ten? Wozu kann dann al­les noch die­nen? … Ach, ein Kind hat sein Bru­der? Wie hübsch! Er wird ihm et­was mit­brin­gen, wird es einst aus­stat­ten. Die Ge­schäf­te ge­hen bes­ser, sie sol­len sich wun­dern … Und von Jahr zu Jahr: Der Bor­to­lo schon tot? Und Don Fe­li­ce? Und auch der, und auch der? Wa­rum schreibst nun du selbst nicht mehr? … Schwei­gen. Und der alte Ein­sa­me ver­gisst die To­des­fäl­le, von de­nen ihm einst be­rich­tet ward; wenn er von der Rück­kehr träumt, ste­hen alle un­ver­wan­delt am Ufer, und Car­lot­ta trägt noch die rote Schür­ze, die er ihr gab. Sein Geist geht zwi­schen Ge­bäu­den um, die ab­ge­tra­gen sind, und bei Men­schen, die un­ter Kreu­zen lie­gen. Zu­letzt tritt er den­noch die Rei­se an, für die er fünf­zig Jah­re ar­bei­te­te und leb­te. Nun fährt er da­hin – wer­den die Atem­zü­ge aus­rei­chen? – fährt, se­he­risch vor Angst und Drang, dem un­mög­li­chen Ziel sei­nes Le­bens zu, dem, was es für ihn nicht gibt, dem Phan­tom ei­ner Hei­mat!

      Lola schluchz­te noch im­mer. Sie be­wein­te in frem­den Schick­sa­len das Sinn­bild des ei­ge­nen, und eine be­sänf­ti­gen­de Brü­der­lich­keit floss ihr aus je­nen zu. Sie schäm­te sich ih­rer Men­schen­feind­schaft, ver­ach­te­te die Gabe, die sie bis dort hin­abbli­cken lehr­te, wo nie­mand mehr dem Er­kannt­wer­den ge­wach­sen ist; ent­setz­te sich: »Hab ich denn nicht im­mer lie­ben, nur lie­ben wol­len? Einst war ich doch ent­schlos­sen, mich eher le­ben­dig be­gra­ben zu las­sen, als dass Er­nes­te oder Mai stür­be! Wie ist es mög­lich, dass Men­schen


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