Zwischen den Rassen. Heinrich MannЧитать онлайн книгу.
ja, du warst das erste Jahr immer in Trauer.“
Sie sah noch in die Luft: ob sie weiterfragen müsse. Wozu; und sie kehrte zum Buch zurück.
„Wenn man so allein geblieben ist, wie ich damals, dann ist das Herz vorbereitet. Drum gewann ich dich, die du auch allein warst, gleich sehr lieb,“ sagte Erneste einfach. Nach einer Pause, da Lola sich nicht regte:
„Nun, ganz vergessen wirst du die alte Erneste wohl niemals!“
Ein stockendes Selbstgespräch.
„Solltest du einst ein Kind zu erziehen haben: Ja, dann denkst du gewiss an mich . . . Du musst es selbst erziehen . . . Bei Rousseau — hier den Emile wollen wir zusammen lesen — steht folgendes: ‚Wenn ein Vater Kinder zeugt und ernährt, leistet er damit erst ein Drittel seiner Aufgabe . . . Wer die Vaterpflichten nicht erfüllen kann, hat kein Recht, Vater zu werden. Weder Armut noch Arbeiten noch menschliche Rücksichten entheben ihn der Pflicht, seine Kinder selbst zu ernähren und zu erziehen. Leser, ihr könnt mir glauben, jedem, der ein Herz hat und so heilige Pflichten versäumt, sage ich voraus, dass er über seinen Fehler lange Zeit bittere Tränen vergießen und sich nie trösten wird.‘“
Erneste sah vom Buch auf: Lola saß blass da und sah sie durchdringend an. Plötzlich, klar, rasch und eintönig:
„Meinst du etwa meinen Vater?“
Erneste öffnete erschreckt den Mund und konnte nicht sprechen. Sie wehrte mit der Hand ab.
„Meinst du etwa meinen Vater?“ wiederholte Lola. Rosig bis über die Stirn brachte Erneste hervor:
„Um Gottes willen, Kind, was fällt dir ein! Ich habe von uns gesprochen, von dir und mir. Ich halte dich in meinen Gedanken ja immer für mein eigen!“
Lola prüfte sie noch immer: nein, Erneste hatte wohl nicht an Pai gedacht. Wie sie sich aufregte! Welch seltsamer Ton: ich halte dich für mein eigen. Lola stutzte; aber dann verglich sie unwillkürlich das an Ernestes verwachsenem Körper schlechtsitzende Kleid mit ihrem eigenen, das sie auch immer vergeblich zurecht zog; und sie sah weg.
Erneste beugte sich über ihre Häkelei und sann erschüttert: „Sie kann glauben, dass ich ihr wehe tun will? Armes Kind! Armes Kind!“
Etwas später stellte sie eine Frage, und als Lola nicht verstanden hatte, klopfte Erneste auf den Tisch und bemerkte streng:
„Wenn du beim Lesen die Finger in die Ohren steckst, kannst du mich allerdings nicht verstehen. Sprich übrigens französisch!“
Und sie führten zur Übung ein langes, gleichgültiges Gespräch.
Nein, wahrhaft liebenswerte Wesen gab es nur auf andern Sternen; in ihrer Nähe suchte Lola sie nicht. Eines Tages aber fand sie einen jungen Vogel, der vergeblich ins Gebüsch zu flattern versuchte, und nahm den aus dem Nest Gefallenen mit nach Hause.
„Was ist das überhaupt für ein Tier?“ sagte Erneste.
„Das ist ganz gleich,“ erklärte Lola. „Ich habe ihn gern.“
„In der Stadt wollen wir gleich im Buch nachsehen.“
„Nein, bitte nicht! Von welcher Gattung er ist, und alles übrige kümmert mich nicht. Vielleicht ist er ein kleiner Fremder: ich habe ihn gern.“
„Kind, du bist sonderbar; aber wie du willst.“
Nun saß Lola halbe Tage mit dem Vogel in ihrem Zimmer, ließ ihn über ihre Finger steigen, auf ihre Schulter flattern und bot ihm, mit einem Körnchen zum Picken, ihre Lippen. Als er zu fliegen anfing, schloss sie das Fenster, setzte ihn vor sich hin auf den Tisch, betrachtete ihn, den Kopf in der Hand, wie er pickte, eckig den Kopf rückte, sie ansah und einen kleinen hellen, einsamen Laut ausstieß; und stellte sich vor, dies sei ein Käfig und sie beide seien darin eingesperrt.
Zurück in der Pension, sehnte sie sich keinen Augenblick nach ihrem Walde, nach den Gewittern und der Holzfällerhütte; sie hatte ihren kleinen Genossen, der zwischen den Stäben seines Bauers, in ihrem Zimmer auf sie wartete. Sie dachte immer an ihn, ließ es sich aber nie anmerken und bekam ein hartes, abweisendes Gesicht, wenn jemand von ihm sprach.
Niemand übte Kritik an ihren Seltsamkeiten; man konnte Lola nur anstaunen: denn in diesem Winter verwandelte sie sich und ward schön. Die große Natur, der sie im Sommer sich hingegeben hatte, schien in ihr fortzublühen und Ebenmaß und Vollendung zu wirken. Lola tastete nach ihren Schultern, deren Spitzen nicht mehr zu spüren waren, nach ihren Gliedern, die sich formten und ihr nicht mehr den Eindruck machten, als seien sie zu lang und schlenkerten locker umher; und sie fragte sich mit gerunzelten Brauen, was werden solle. Ihr Schicksal war doch schon fertig gewesen? Auf einmal befiel sie eine betäubende Freude, eine neue entzückende Selbsterkenntnis. „Das also bin ich!“ So oft sie konnte, zog sie sich in ihr Schlafzimmer zurück: „um nach meinem Vogel zu sehen;“ aber sie sah nicht mehr nach ihm, sie sah nur nach sich selbst; und des Abends ging sie früher hinauf als die übrigen, um allein mit ihrem Spiegel zu sein. Er zeigte ihr eine goldblonde, große Haarwelle von nie geahnter Weichheit über einer Stirn, deren Höhe nicht mehr auffiel; zeigte ihr so genau und zart hingezeichnete Brauen über so warm glänzenden Augen, so fein gefügte Lippen, schmal und feuchtrot; die Wangen, die sie noch ein wenig voller wünschte, füllten sich genau in der Linie, die sie wünschte; färbten sich, wie sie’s verlangt hatte; und war diese weich gebogene Nase jemals hässlich und zu groß gewesen? Lola erfuhr, sie könne ein sehr damenhaftes Gesicht annehmen, das sie fast selbst verlegen machte, und, wenn sie das Haar auflöste, ein ganz kindliches. Beim Öffnen der Bluse freute sie sich auf die schlanke, weiße Biegung ihres Halses, beim Ablegen des Mieders auf ihre Brust. Sie hätte sich gern ganz gesehen: aber Erneste konnte eintreten; und als Lola es dennoch gewagt und den Spiegel auf den Fußboden gestellt hatte, lag sie gleich darauf im rasch verdunkelten Zimmer mit Herzklopfen unter der Decke, und ihr war zumut, als kehre sie zurück von einem heimlichen Ausgange, sie wusste nicht wohin.
Wer war so schön und vermochte so viel? Natürlich: jetzt drängten alle heran, ihre Freundinnen zu werden! Lola legte ihnen Prüfungen auf, ließ sich einen Gegenstand schenken, an dem der andern viel lag: nur um ihre Macht zu fühlen. Dann gab sie das Geschenk zurück und sagte, sie könne niemandes Freundin sein; die Freundin mehrerer am wenigsten. Freundschaft: ihr sagte das Wort zu viel. Nachdem die Ihren sie verlassen hatten, konnte ihr Freund, wenn sie einen hatte, nur auf einem andern Sterne leben! und vieler Schmerzen, eines Lebens voller Schmerzen bedurfte es sicherlich, bis sie zusammentrafen. Die Gefühle dieser Menschen hier waren zu billig. Lola horchte nicht mehr argwöhnisch, ob von ihr gesprochen wurde. Hässlich und fremd, hatte sie die Menschen gehasst. Fremd und schön, sah sie von ihnen weg. Freundinnen? Diese Berta, diese Grete, die sich noch gestern Abend um einen Pfannkuchen gestritten hatten, bis beide weinten?
Wenn Lola jetzt an einen Aufsatz gehen wollte, fand sie den fertigen Entwurf, von einer Hand, die sie nicht kannte, schon in ihrem Heft liegen. Von derselben Hand bekam sie Briefe voll schmachtender Freundschaft. Anfangs warf sie sie weg; dann spürte sie Lust, eine Probe zu machen. Sie tat kund, sie habe etwas Merkwürdiges, und versammelte alle Pensionärinnen um sich. Unvermutet zog sie einen der Briefe hervor, hielt ihn empor: „Wer hat das geschrieben?“ und sah dabei fest in die Gesichter. Alle reckten sich neugierig: nur das der langen Asta sah nicht den Brief an, sondern Lola, und blinzelte befangen. Lola steckte den Brief wieder ein. „Danke,“ sagte sie und drehte sich um.
Am Nachmittag lag zwischen ihren Schulbüchern ein neuer Brief: diesmal in Astas Schrift. Asta bat sie, um sechs in die Gartenlaube zu kommen, sie werde alles erfahren. Lola war entschlossen, nicht hinzugehen. Als es dämmerte, saß sie am Fenster ihres Zimmers. Drunten stapfte Asta, lang und gebückt, in Gummischuhen durch den Schnee. Lola sah nachdenklich zu. Plötzlich nahm sie ihren Mantel und stieg hinab.
„Nun?“ fragte sie und trat unversehens hinter den Lebensbäumen hervor. Asta schnellte von der Bank auf.
„Verzeih,“ stammelte sie. „Verzeih! Ich wollte dich nicht belügen, aber im Beisein der andern konnte ich dir’s nicht sagen.“
„Es