Zwischen den Rassen. Heinrich MannЧитать онлайн книгу.
Hier, unter der grellsten Helle, folgten sie beide auf einmal dem Zwang, einander anzusehen. Lola sah etwas düster Schmachtendes, tierisch Leidendes, das sie schrecklicher erschütterte als die Siegerhärte, die sie sich vorgestellt hatte. Langsam von ihm wegsehend: „Ja, das ist er. Er ist ein beschränkter Gewaltmensch, und ich liebe ihn mit Widerwillen: aber er ist der Typus, dem ich unterliegen soll. Die vorigen, in Paris und in Rom, waren vom selben. Dieselben zusammentreffenden Brauen, die harte Marmorfarbe wie hier, woraus jede Wimper, jeder Blutstropfen der Lippen drohend hervorstarrt. Wozu sich quälen? Er liebt mich, so gut er’s versteht. Mit dem, was zu ihm gehört, liebe auch ich ihn. Ich habe noch mehr, — wovon er nicht weiß: aber wer wird je davon wissen. Wozu auf dem Unmöglichen bestehen, wozu so viel kämpfen; warum nicht ein einziges Mal ganz unvernünftig glücklich sein.“
Sie nahm tiefere Züge Meerwindes; und inzwischen stiegen sie kaum beleuchtete Gassen hinan, erreichten einen Gartenplatz und tasteten sich durch das Dunkel eines bitter duftenden Gebüsches. „Wo ist denn der Weg?“ Und statt des Weges suchten sie einer des andern Hand. Lola zuckte zusammen, als sie die ihre gefangen fühlte; aber sie fühlte auch, dass er in diesem Augenblick mit Zartheit an sie denke; und während des Lächelns, das langsam über ihr Gesicht hinging, war ihr’s, als lächele das ganze Dunkel. Sie dachte unbestimmt an weit Vergangenes: an ihre Kindheit. Wie sie eine Balustrade trafen, stützten sich beide darauf; ihre Unterarme lagen, ohne sich zu berühren, einander so nahe, dass jeder des andern Wärme spürte; und drunten über dem nächtlichen Gitter aus Masten und Schlöten suchten sie das Meer: lange und beklommen von Sehnsucht. „Der Mond muss bald aufgehen.“
Lola sagte:
„Daheim auf der Großen Insel war’s das Schönste, wenn das Meer leuchtete. Ach, nun weiß ich wieder: mein Großvater zündete viele Papierröllchen an und schoss sie in weiten, leuchtenden und zischenden Bogen über das Meer.“
Der junge Mann lachte kindlich und sprach von seiner Meerfahrt, derselben, die einst auch Lola gemacht hatte. Ob sie sich nicht jenes Inselkönigs erinnere, den man für zwei Franken sehen konnte. Abwechselnd riefen sie zurück, was ihnen beiden begegnet war; und bei jedem Zusammentreffen ihrer Erlebnisse durchrann Lola der Schauer des Vorherbestimmten.
„Gleich wird der Mond aufgehen,“ murmelte sie, mit süßer Angst. Jenes Kinderglück auf der Großen Insel bewegte sich leise unter allen ihren Einfällen; und die heimliche Gewissheit, nie werde es wieder so gut werden, ließ sie, sie wusste nicht warum, von erlittenen Schmerzen sprechen, von ihrer Einsamkeit, von der Müdigkeit, die in ihr zunehme. Schweres Drängen nach Gemeinschaft, nach Menschennähe zitterte in ihrer Stimme und machte ihre Arme flugbereit: bereit um einen Nacken zu fliegen.
Er sah sie mehrmals unruhig von der Seite an.
Plötzlich: „Woran denken wir?“ — mit einer Bewegung, die er sofort zurücknahm. Aber sie war nun wieder erinnert, dass er sie haben wolle und nichts weiter; dass sie nicht seine Gefährtin sei, nur eine Geliebte; dass irgendeine der flüchtigen Begierden, in deren Wirbeln sie dahinlebte, sie an diese Stelle geweht habe und die nächste sie weitertreiben werde; und dass alles dies nicht mehr sei als ein heißer Windstoß über die nackte Haut. Das Entsetzen des Verirrtseins packte sie, und sie wagte sich nicht zu rühren.
Er sagte:
„Ich habe über Sie nachgedacht: ich durchschaue Sie vollkommen. Nehmen Sie gegen Ihre Zustände dies: nie mehr als einen Tropfen und nur wenn sie in Gesellschaft gehen wollen.“
Seine Stimme war ihr nun verdächtig. Unter einem eisigen Misstrauen zog sie sich innerlich zusammen. Was hatte dieser Mensch mit ihr vor? „Noch niemand hat Gutes mit mir vorgehabt!“ Er war ein Feind. „Mein Gott, in wessen Gewalt bin ich geraten!“ Sie stieß zurück, was er ihr hinhielt. Er bemerkte plötzlich ihre Veränderung, bereute ungestüm, an Schwärmerei und Regungen der Güte eine gelegene Zeit vergeudet zu haben, und tat einen harten Griff nach ihr. Sie wich aus, bückte sich und entkam in die Finsternis der Steige. Der Mond war nicht aufgegangen.
Sie stieß auf die Treppe, stürzte vorwärts, durch das Netz der leeren Gassen, immer darauf gefasst, die Schultern unter seiner zufassenden Hand zu ducken. Drunten auf dem weiten, grellen Platz schien ihr der Anblick einiger Bummler unbegreiflich, ein rettendes Wunder. Alles hatte sich doch schon aufgelöst, alles war doch schon verloren gewesen. Sie sprang, noch fliegenden Atems, in einen vorüberfahrenden Wagen. Während der Fahrt erlebte sie immer aufs Neue den Augenblick, als er nach ihr griff. Sie wand sich vor Angst und Hass.
Wie sie in ihrem Zimmer das Licht aufdrehte, stand vor ihr im Spiegel der elegante, selbstsichere junge Mann, den sie, schien es, hier zurückgelassen hatte. „Was ist seither aus mir geworden! Mein Gott!“ Sie ließ sich in den Sessel fallen und weinte.
Sie wachte auf und saß noch immer in ihren Männerkleidern da. Im offenen Fenster lag grauer Halbtag; drunten knirschten die ersten Karren. Lola fror es; sie fühlte sich müde und verlassen. „Wenn ich’s nun getan hätte?“ dachte sie, starren Blicke. „Ich hätte jetzt einen Herrn. Vielleicht wäre ich glücklich.“ Dann: „Wenn er jetzt käme? Wenn er jetzt drunten stände?“ Sie sah hinab: nein; und sie seufzte.
Beim Auskleiden fand sie in der Westentasche das Fläschchen, das sie zurückgestoßen hatte. Also war’s ihm gelungen, es ihr aufzudrängen! Sie stellte es weit weg, wanderte ein paarmal ratlos in die Runde, zog schließlich ein Morgenkleid an und ging hinüber in den Salon. Vor der Tür zu Mais Schlafzimmer kehrte sie um, machte den Weg noch einmal und holte das Fläschchen. Es ließ sich in der hohlen Hand verstecken, ohne dass sie die Finger schloss. Dann trat sie bei Mai ein.
Mai schlief; Lola sah ihr zu, wie sie kindlich atmete, wie ihr schönes, faltenloses Gesicht sich glücklich ausruhte. Einmal lächelte sie, wie bei einem Siege. Was träumte ihr? Gewiss, dass man sie anbete. Lola stand und sann sich fest in Mai. „Wie seltsam, dass ich zu ihr gehöre! Ich habe doch Welten für mich, von denen die arme Mai nichts ahnt; aber dann falle ich, ob ich will oder nicht, wieder auf die ihre zurück und spüre in meinem Blut diesen schönen, dummen Männertypus, den ich verachte. Ist es nicht, als ob ich manchmal das Bewusstsein verlöre, in Mai zurückkehrte, aus der ich einst hervorgegangen bin, und sie für mich fühlen und handeln ließe? Da geht man dahin und ist nicht man selbst. Was kann alles auch in dem Namen stecken, den einem andere gegeben haben. Lola: . . . Lo—la . . . Ich höre etwas unheimlich Schmelzendes, Willenloses darin. Lola: nein, es kann auch sehr frisch und mutig klingen . . .“
Da erwachte Mai, und beide erschraken.
„Du bist also doch gekommen?“ stammelte Mai. „Ich habe dich nicht gehört. Du hast mir schreckliche Sorge gemacht. Ich konnte doch niemand nach dir fragen: was hätte man gedacht!“
Lola erkannte, nun Mai zu Sorgen erwacht war, plötzlich Spuren des Alterns an ihr. Sie erinnerte sich: auch dies Kinderwesen musste kämpfen und leiden.
Zärtliche Reue hob Lolas Herz auf; sie warf sich vor dem Bett auf die Knie, schob die Arme unter Mais Nacken.
„Ich habe dich lieb, Mai. Wir wollen fort von hier!“
„Fort? Warum?“ fragte Mai erschrocken.
„Weil . . . Siehst du: man hat mich erkannt. Was ich getan habe, war dumm. Nun ist’s besser, wir gehen. Ja, so: der Herzog und Aguirre. Denen tragen wir auf, zu erzählen, wir seien schon gestern abgereist. Sie werden diskret sein, niemand wird beweisen können, dass er mich heute Nacht gesehen hat.“
„Und Da Silva?“
Lola fuhr zurück, mit plötzlich verschlossener Miene.
„Wie ist’s mit Da Silva?“ wiederholte Mai unsicher. Lola näherte sich ihr wieder.
„Er ist ein guter Freund,“ sagte sie sanft. „Gegen meine Schmerzen und Müdigkeiten hat er mir dies gegeben. Meinst du, dass ich’s versuchen soll?“
Sie nahm Mais goldenen Arzneilöffel und ließ einen Tropfen hineinfallen.
„Soll ich?“
Zögernd:
„Soll ich?“