Professor Unrat. Heinrich MannЧитать онлайн книгу.
der Mahlzeit stellte er sich vor sein Schreibpult. Es war, Unrats kurzsichtigen Augen zuliebe, übermäßig hoch; und die dreißigjährige Anstrengung, den rechten Arm daraufzulegen, hatte ihm die Schulter weit aus der graden Linie gehoben. »Das Wahre ist nur die Freundschaft und die Literatur,« sagte er dabei wie gewöhnlich. Dies Wort hatte er irgendwo aufgefangen und sich angewöhnt, und sah sich nun genötigt, es vor sich hin zu denken, so oft er an die Arbeit ging. Was er unter Freundschaft zu verstehen habe, erfuhr er nie. Das Wort ging nur zufällig mit. Aber die Literatur! Das war ja sein wichtiges Werk, wovon die Menschen nichts wussten, das hier in der Stille seit langer Zeit gedieh und das vielleicht einmal, Staunen erregend, aus Unrats Gruft hervorblühen sollte. Es handelte von den Partikeln bei Homer!... Aber Lohmanns Aufsatzheft lag daneben und ließ ihn nicht in Stimmung kommen. Er musste danach greifen und an die Künstlerin Fröhlich denken. Es gab etwas, das ihn sehr beunruhigte: er war nicht mehr sicher, dass die berühmte Barfußtänzerin sich Rosa Fröhlich nenne. Diese Fröhlich konnte ganz etwas anderes sein. Ja, sie war ganz etwas anderes: es ward Unrat durch Grübeln zur Gewissheit. Er hatte sie immer noch ausfindig zu machen, um sie dem Schüler Lohmann »beweisen« zu können. Er sah sich, im Kampfe mit diesem Elenden, wieder weit zurückgeworfen und keuchte vor einsamer Erregung.
Plötzlich stürzte er sich in seinen Mantel und stürmte hinaus. Vor dem Haustor lag schon die Kette; Unrat zerrte daran, wie ein Ausbrecher. Die Wirtschafterin schalt, er hörte sie herbeistampfen. In der Angst der äußersten Minute tat er einen richtigen Griff, die Tür ging auf, er war im Vorgärtchen und auf der Straße. Bis zum Stadttor wechselte er zwischen Trab und Eilschritt; dann mäßigte er sich, aber sein Herz klopfte. Er fühlte sich seltsam, wie auf verbotenen Wegen. Er ging den verödeten Straßenzug, über Berg und Tal, immer gradaus. Er lugte in die Gässchen und »Gruben«, verweilte vor den Gasthäusern und sah mit gespanntem Misstrauen zu Fenstern hinauf, zwischen deren geschlossenen Vorhängen ein Lichtstrahl zu liegen schien. Er wanderte auf der dunkeln Seite; drüben verbreitete sich heller Mond. Es war sternenklar, es wehte nicht mehr, und Unrats Schritte hallten. Beim Rathaus lenkte er auf den Markt und machte die Runde unter den Lauben. Bogen, Türme, Brunnen stachen ihre von Arabesken umrankten Schattenrisse in die gotische Mondnacht. Eine rätselhafte Aufregung geschah in Unrat; er sagte zu verschiedenen Malen:
»Da würde denn wohl ... traun ...« und »Vorwärts denn also!«
Dabei prüfte er eifrig jedes einzelne Fenster der Post und des Polizeiamtes. Da er es unwahrscheinlich fand, dass sich die Künstlerin Fröhlich in diesen Gebäuden versteckt halte, kehrte er auf die vorhin verlassene Straße zurück. Wenige Schritte weiter glänzte die breite Scheibe eines Lokals, in dem sich viele von Unrats Kollegen allabendlich um das Bier scharten. Auf der Gardine erschien schwarz abgezeichnet der spitzbärtige, mit dem Munde klappende Kopf eines Oberlehrers, eines ganz schlimmen, der Unrat den Respekt versagte, weil er zur Lockerung der Disziplin in der Schule Anlass gebe, und der sich über Unrats Sohn sittlich entrüstet hatte. Unrat sah sich diesen Doktor Hübbenett nachdenklich an: wie er redete aus seinem Bart heraus, was er für einen Biereifer hatte, welch gewöhnlicher Michel er war! Unrat hatte mit den Leuten da drinnen nichts zu tun, gar nichts; es ward ihm jetzt klar, zu seiner Genugtuung. Da hockten nun Die beisammen und waren in der Ordnung: er aber dünkte sich fragwürdig, gewissermaßen, und ausgestoßen, sozusagen. Und der Gedanke an Die dort war ihm kein böser Stachel mehr. Er nickte dem Schatten des Oberlehrers zu, langsam und mit Geringschätzung – und ging weiter.
Die Stadt war gleich wieder zu Ende. Er kehrte um, wandte sich in die Kaiserstraße. Bei Konsul Breetpoot musste Ball sein; das große Haus war ganz erleuchtet, fortwährend fuhren Wagen auf. Der Diener und mehrere Aufwärter sprangen vor, öffneten die Schläge, halfen beim Aussteigen. Seidene Röcke raschelten über die Schwelle. Eine Dame hielt an, sie streckte gütig lächelnd die Hand einem jungen Mann entgegen, der zu Fuß herbeikam. Unrat erkannte in dem hübschen Menschen mit dem Zylinder den jungen Oberlehrer Richter. Er hatte sagen gehört, Richter sei auf eine reiche Heirat aus, in einer eleganten Familie, zu der sonst Oberlehrer nicht den Blick erhoben. Und Unrat, drüben im Dunkeln, feixte vor sich hin.
»Ei, recht strebsam – wahrlich doch,« sagte er.
Er machte sich in seinem bespritzten Kragenmantel lustig über den wohlaufgenommenen, aussichtsreichen Menschen, wie ein höhnischer Strolch, der unerkannt und drohend aus dem Schatten heraus der schönen Welt zusieht und das Ende von alledem in seinem Geist hat, wie eine Bombe. Er fühlte sich Richter weit überlegen, ihm war ganz munter; er schäkerte still und sagte, ohne sich selbst zu verstehen:
»Ihnen kann ich auf Ihrem Wege noch recht hinderlich werden. Ich werde Sie – immer mal wieder – hineinlegen, merken Sie sich das!«
Und im Weitergehen unterhielt er sich ausgezeichnet. Wenn er wieder auf ein Türschild mit dem Namen eines Kollegen oder eines alten Schülers stieß, dachte er: »Sie fass' ich auch noch mal,« und rieb sich die Hände. Zugleich lächelte er in verstohlenem Einverständnis den achtbaren Giebelhäusern zu, weil er versichert war, in einem von ihnen stecke die Künstlerin Fröhlich. Sie hatte ihn merkwürdig angeregt, aufgekratzt, aus dem Häuschen gebracht. Zwischen ihr und Unrat, der auf nächtlicher Streife hinter ihr herschlich, war eine Art Verbindung hergestellt. Der Schüler Lohmann war das zweite Stück Wild: sozusagen Indianer von einem andern Stamm. Wenn Unrat mit seiner Klasse auf das Schulfest zog, musste er manchmal Räuber und Soldaten mitspielen. Er stand auf einem Hügel, reckte die Faust gen Himmel und kommandierte: »Fest drauf, jetzt nunmehr!« und regte sich richtig auf bei dem folgenden Scharmützel. Denn das war Ernst. Schule und Spiel waren das Leben ... Und heute Nacht spielte Unrat Indianer auf dem Kriegspfad.
Er kam in immer lüsternere Spannung. Die unbestimmten Formen im Schatten erregten ihm Furcht und Kitzel; jede Straßenecke lockte schauerlich. In enge Nebengassen ließ er sich ein wie in Abenteuer, hielt bei einem Wispern aus einem Fenster unter Herzklopfen den Schritt an. Hier und da ging eine Tür bei seinem Nahen leise auf, einmal streckte sich ein rosa bekleideter Arm nach Unrat aus. Er entfloh, ganz überrieselt, und sah sich unvermittelt am Hafen – zum zweiten Mal heut, und er betrat diese Gegend sonst in Jahren nicht. Schiffe türmten sich schwarz, unter Rinnsalen von Mondlicht. Unrat kam auf den Gedanken, die Künstlerin Fröhlich sei darauf, sie schlafe in einer Kajüte; vor Morgengrauen werde das Nebelhorn brüllen und die Künstlerin Fröhlich davonfahren in ferne Länder. Bei dieser Vorstellung ward Unrats Drang zu handeln, zuzufassen, ganz ungestüm. Zwei Arbeiter stapften herbei, der eine von rechts, der andere von links. Dicht bei Unrat trafen sie sich, und der eine sagte:
»Na, wo geit hen, Klaas?«
Der zweite antwortete düster und im Bass:
»Duhn supen.«
Unrat musste sinnen über das Wort: wo er es heute schon gehört habe, und was es besage. Denn er hatte in sechsundzwanzig Jahren die Mundart nicht verstehen gelernt. Er folgte den beiden Proletariern und ihrem zu erschließenden Sprachschatz durch mehrere kotige »Twieten«. In einer etwas breiteren steuerten sie im Bogen auf ein weitläufiges Haus zu, mit ungeheurem Scheunentor, worüber vor dem Bilde eines blauen Engels eine Laterne schaukelte. Unrat vernahm Musik. Die Arbeiter verschwanden im Flur, der eine sang mit. Unrat bemerkte im Eingang einen bunten Zettel und las ihn. Er zeigte eine »Abendunterhaltung« an. Als Unrat in der Mitte war, stieß er auf etwas, das ihm Keuchen und einen Schweißausbruch verursachte, und fing, in der Furcht und der Hoffnung, sich geirrt zu haben, von vorn an. Auf einmal riss er sich los und stürzte sich in das Haus, wie in einen Abgrund.
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