Die kleine Stadt. Heinrich MannЧитать онлайн книгу.
haben.«
Seine Hände, die diese Formen nachbilden wollten, ließ er rasch wieder sinken, denn zweifellos sah sie ihn. Der Reisende fragte:
»Ist sie, seit ich zuletzt hier war, noch immer nicht ausgegangen?«
»Was denken Sie!«
Alle bekamen gekränkte Mienen.
»Sie verspricht es, sooft der Alte es will, dann lässt er ihr schöne Kleider kommen, sogar von Rom her, denn schließlich ist sie das reichste Mädchen hier und hätte hunderttausend Lire mitbekommen; lädt ihre ehemaligen Freundinnen ein, bestellt den Wagen zur Ausfahrt … Die Stunde ist da, der Wagen mit den Freundinnen steht vor dem Hause, Evangelina in ihren schönen Kleidern steigt die Treppe hinab. In der Mitte aber hält sie an, sagt ›Nicht heute, ein anderes Mal‹ und geht zurück in ihr Zimmer.«
Mehrere lugten aus den Augenwinkeln hinüber nach dem geheimnisvollen Hause. Unten, wie in schwarzer Höhle, glomm ein Licht, und vor seinem Laden ging der Kaufmann hin und her: langsam immer hin und her. Die Gäste des Cafés »Zum Fortschritt« konnten ihm zusehen und bei seiner Bewegung fühlen, dass die Zeit vergehe.
Der Apotheker erhob sich, denn ein Kunde war bei ihm eingetreten: der Junge des Gastwirtes Malandrini. Was konnte bei Malandrini vorgefallen sein? Gewiss handelte es sich um die Frau, die der Tabakhändler erst gestern mit dem Baron Torroni in ziemlich verdächtiger Unterhaltung gesehen hatte. Wer weiß, was sie jetzt aus der Apotheke brauchte.
»Nun –?« und alle Blicke sogen an dem alten Acquistapace, der, sein hölzernes Bein schwingend, zurückkam.
»Die Schwiegermutter hat Sodbrennen.«
Alle Köpfe senkten sich.
»Wenig Bewegung ist hier am Ort«, sagte der Leutnant der Carabinieri zu dem Reisenden und nickte hinüber, wo sich der Kaufmann Mancafede hin und her bewegte. Der Reisende wollte höflich den Ort entschuldigen, aber der Advokat Belotti sagte erstickt:
»Was kann man tun, wenn diese verdammte Post eine Stunde Verspätung hat! Sonst sähe hier vielleicht alles anders aus. Denn schließlich – sagen wir nur die Wahrheit! – können doch jeden Tag die größten Dinge geschehen. Die Stadt steht vor Ereignissen, die …«
»– nicht eintreten«, schloss der Gemeindesekretär und lehnte sich zurück, um seine Taille zu zeigen.
»Wer sagt Ihnen das?« Der Advokat fuchtelte, bevor er sprechen konnte. »Bin nicht etwa ich der Vorsitzende des Komitees und muss ich nicht als erster wissen, ob etwas geschieht, ob etwas, sage ich, geschehen kann?«
»Bevor die Post da ist?«
»Die Post! Die Post, mein Herr, war schon öfter da. Die Post hat zum Beispiel mir: verstehen Sie wohl, mein Herr, mir, dem Vorsitzenden des Komitees, einen Brief Ihrer Exzellenz der Frau Fürstin Cipolla gebracht, mit der gütigen Erlaubnis der Frau Fürstin, das Schlosstheater zu benutzen für die Vorstellungen der Truppe, die wir, das Komitee, hierher zu verschreiben gedächten. Und das war bereits kein geringer Erfolg, wenn Sie bedenken …«
Der Advokat wendete sich zum Reisenden; einen seiner mürben Finger, die ihn älter machten als sein Gesicht, reckte er hinter sich, wo die Treppengasse zum Kastell hinaufbog.
»– dass das Theater seit fünfzig; seien wir genau, seit achtundvierzig und dreiviertel Jahren unbenutzt steht, nämlich seit der Vermählung des armen Fürsten …«
»War die Vorstellung gut, Advokat?« fragte beißend der Gemeindesekretär. »Sie haben doch schon damals den Impresario gemacht? Denn wann waren Sie untätig? Gewiss nicht einmal in den Windeln.«
Und der Advokat, mit verächtlichem Achselzucken:
»– des armen Fürsten, um den Ihre Exzellenz noch trauert. Darum darf ich auch die Bewilligung unseres Gesuchs mir ganz persönlich zuschreiben und dem Umstande, dass ich der Sachwalter der Frau Fürstin bin.«
»Aber der Kapellmeister?« fragte sein Gegner. »Sollte nicht auch er einiges Verdienst haben? Alfò, sage unserem Freunde, ob du und die anderen alle in der ›Armen Tonietta‹ eure Instrumente spielen könntet, wenn nicht unser Maestro Dorlenghi wäre!«
»Wer leugnet seine Tüchtigkeit? Übrigens zahlt die Gemeinde ihm hundert Lire monatlich und die Kirche fünfzig. Aber scheint es den Herren nicht, dass wir auf die Künstler, die er uns verschaffen wollte, recht lange warten müssen?«
»Ich wette, dass sie heute in der Post sitzen werden!« rief der Apotheker. Der Advokat bezweifelte es.
»Vielleicht werde ich als Vorsitzender des Komitees mich noch selbst nach ihnen umsehen müssen. Wer weiß, wohin ich fahren werde: bis nach Rom vielleicht.«
»Aber, Advokat«, sagte der Gemeindesekretär, »was verstehen Sie vom Theater?«
»Ich? Sie vergessen, Herr Camuzzi, dass ich in einer Stadt wie Perugia studiert habe. Dort hatten wir oft genug eine Truppe von Komödianten, und wir Studenten verkehrten mit ihnen, kann ich den Herren sagen, nicht anders, als ich mit Ihnen verkehre. Die Choristinnen: ah! ich sage nur dies Wort, die Choristinnen … Natürlich hatte auch die Primadonna den ihren, aber man musste reich sein, sehr reich; ich erinnere mich, ein Herr aus der Stadt gab ihr dreihundert Lire im Monat. Begreifen Sie das? Dreihundert Lire für eine Frau!«
Da der Advokat in lauter achtungsvolle Gesichter sah, blühte er auf. Er öffnete seinen schwarzen Rock, obwohl keine Weste darunter war. Die Arme in der Luft gerundet, mit rauen gelben Manschetten, die bis über die Korallenknöpfe herausfielen, und mit einer Flüsterstimme, aus der manchmal ein heiseres Bellen brach:
»Aber so ist die große Welt: man muss sie kennen. Die Herren Künstler sind die Großartigsten von allen. Man hat keinen Begriff von dem Leben, das diese Schauspieler und Literaten führen. Jede Nacht Champagner, schöne Weiber, so viel sie mögen, und nie vor zwölf aus dem Bett.«
»Als ich in Forlì1 stand«, sagte der Leutnant der Carabinieri, »zeigte man mir einen Maler, der zwei Fiaschi trinken konnte. Freilich war er ein Deutscher.«
»Wozu auch«, schloss der Advokat, »da sie spielend mehr Geld verdienen, als sie brauchen, und keine Sorgen haben. Für uns Bürger ists anders eingerichtet auf der Welt. Aber es ist nicht übel, dass es auch Menschen gibt, die ein so leichtes Leben haben, nach Herzenslust über die Stränge schlagen dürfen und immer guter Laune sind. Haben wir erst einige der Art hier bei uns, wird es lustig werden.«
»Das kann nicht schaden!« rief