Menschen, die Geschichte schrieben. Группа авторовЧитать онлайн книгу.
und zumal in Aachen, ehrgeizige Kirchenbauten kündeten davon. Der Schmuck der Wände durch Fresken und Mosaiken muss bedeutend gewesen sein, auch wenn nahezu alles untergegangen ist; doch selbst die spärlichen Reste lassen die einstige Farbenpracht ahnen. Die Aachener Marienkirche war, als Pfalzkapelle errichtet, der am höchsten aufragende Bau seit der Römerzeit im Abendland, ein Wunderwerk der Architektur; sie blieb stets eine weithin leuchtende Gedenkstätte ihres Stifters.
Die Mission im Innern wie nach außen schritt voran. Mindestkenntnisse der Gläubigen und Mindestanforderungen an sie sollten durchgesetzt werden: die Kenntnis der Abschwörformeln, des Glaubensbekenntnisses, des althochdeutschen „Vaterunsers“, der regelmäßige Kirchgang, Beichte und Kommunion. Die Rombindung der fränkischen Kirche wurde unzerstörbar gefestigt, die Kirchenordnung in einer noch heute gültigen Weise reformiert, das Kirchenrecht erneuert und weiterentwickelt, der Kampf gegen Irrglauben wie Adoptianismus und Bilderkult, mit denen sich zahlreiche Traktate auseinandersetzten, selbstbewusst vorangetrieben. Liturgie, Mönchtum und Theologie verdankten Karl dem Großen wesentliche Impulse, von den Bemühungen um die Bibelrevision, nämlich um die Zusammenführung der separat kursierenden biblischen und neutestamentlichen Schriften zu einem einzigen Buch, zeugen die mehrbändigen Alkuin- und die einbändigen Theodulf-Bibeln, beide sind prachtvolle Wunderwerke der Bibelforschung und der Buchkunst.
Wissenschaft und Schule, der erneuerte Lateinunterricht legten die Grundlagen für den intellektuellen Aufstieg des Abendlandes. Zumal die Gelehrten des Westens dazu verpflichtet wurden; der Osten jenseits des Rheins war noch geistiges Kolonisationsgebiet. Sie griffen auf antike Bildungsprogramme zurück. Schriftlichkeit breitete sich, erleichtert durch eine Schriftreform, aus, die noch heute weltweit die Buchkultur prägt. Eindringliche und systematische Suche und intensive Abschreibetätigkeit nicht zuletzt für den Hof retteten die Werke der antiken Autoren und der Kirchenväter; die ersten großen Bibliotheken entstanden. Was damals und in den folgenden Jahrzehnten der Findigkeit und dem Abschreibeeifer der Zeitgenossen entging, ist – von wenigen Ausnahmen abgesehen – für alle Ewigkeit verloren.
Jegliches Wissen war am Königshof konzentriert. Seit den 790er-Jahren diente die Pfalz zu Aachen als feste Residenz. Von hier aus lenkte Karl sein Reich, hier versammelte er seine Gelehrten, hier hortete er seine Bücher – ein jedes ein Vermögen wert –, hierher berief er die vielversprechende Jugend seiner Länder. Keineswegs nur Franken, auch Langobarden, Iren und Angelsachsen, Westgoten, Bayern oder Alemannen trafen sich hier, Kleriker und Laien; sie atmeten die Luft des Königshofes und lernten, das Reich von der Nordsee bis nach Benevent, von der Biscaya bis an die Niederelbe als eine Einheit zu achten. Der Königshof war das Wissenszentrum schlechthin. Alle Förderung der Wissenschaften nahm von ihm ihren Ausgang. Eine neue, höfisch geprägte Wissenskultur entstand. Karl versammelte die Gelehrten um sich wie keiner seiner Vorgänger. Wissensaustausch und Wissensdistribution erfolgten über seinen Hof und von demselben aus für und über sein gesamtes Reich. Die Effizienz der Maßnahme war einzigartig. Sie wurde vorbildlich und maßgebend für die kommenden anderthalb Jahrtausende. Seitdem kümmern sich die Herrscher und Regierenden um Schule, Wissenschaft und Bildung, um die Wissenskultur ihres Landes – sei es zu deren Wohl, sei es zu deren Schaden.
Die Rezeption erster logischer Schriften des Aristoteles (die später sogenannte Logica vetus) begann am Königshof und unter maßgeblicher Anregung durch den Herrscher selbst: Die Lehre von den Kategorien und den Satzaussagen, die Differenz zwischen „Begriff“ und „Sache“, nomen und res, und dergleichen mehr wurde, so unwahrscheinlich es klingt, karlisches Herrschaftswissen. Dazu traten die logisch und kategorial geordneten Fragemuster der Rhetorik, die Anfänge der Verwissenschaftlichung des Abendlandes. Welch herrliche Zeiten, in denen die Spitzen der Gelehrsamkeit den Herrscher berieten, und er auf sie hörte, nicht irgend dubiose, Gold verschlingende ‚Berater‘ und inkompetente Referenten. An diesen König klammerten sich Hoffnungen, die zeitlos gültig blieben und seine Gestalt in den Augen der Nachwelt zu einzigartiger Größe aufragen ließen.
Nicht dass die philosophischen Leistungen der Karolingerzeit – wiederum von Ausnahmen abgesehen – in besonderer Weise herausragten; aber dass sie nun angestrebt wurden, und die Intensität, mit der es geschah, dass sie eben jetzt zum Programm aller Schulen des Frankenreiches erhoben und fortan über drei Jahrhunderte lang die allgemeine intellektuelle Grundausstattung höherer Bildung und der dann aufbrechenden Wissenschaft wurden, verschaffte Karls Regierung eine herausragende Bedeutung für die geistige Einheit des Abendlandes. Von ihr zehrten alle Späteren – einschließlich uns Heutigen. Selbstverständlich profitierte auch die Geschichtsschreibung von diesem intellektuellen Aufbruch und mit ihr unser Wissen um diesen König und Kaiser sowie um die aufquellende Mythisierung, die das Gedenken an ihn erfasste.
Auch die Dichter am Hof besangen den König. Alkuin, Theodulf von Orleans, der Quasi-Schwiegersohn Angilbert, der anonyme Epiker des Versgedichtes von „Papst Leo und König Karl“ und viele andere dichteten um die Wette, um sein Lob zu singen. Der Hof sonnte sich in der Gegenwart der Musen. Man imitierte antikes Herrscherlob und Panegyrik. Maximus armis, ensipotens und armipotens, bellipotens (Größter an Waffen, schwertgewaltig, waffengewaltig, kriegsgewaltig) – Karl liebte, eingepasst in die kunstvollen Rhythmen, die kriegerischen Bilder, er, der „große König“, Karolus magnus rex. Gerne hörte er den David-Vergleich, den vielleicht Alkuin erfand: „süßer“, „süßester David“, dulcis David, David dulcissimus.
Doch dann, mit Karls Tod, klangen die Töne verhaltener. Die Lieder spiegelten eine neue Wirklichkeit. Sogar Kritik wurde laut. Einhard schrieb mit seiner Vita Karoli, einem Prosawerk, gerade auch dagegen an. Sein Tatenbericht signalisierte eine Peripetie. Karl besaß keinen angemessenen Nachfolger. Der Sohn, der ihn beerbte, Ludwig der Fromme, war zum Provinzkönig erzogen worden, nicht zum Gesamtherrscher; Karl misstraute ihm eher, als dass er ihn schätzte. Übergehen freilich, gar ausschalten konnte er ihn nicht. Er suchte durch eine Nachfolgeordnung, an der Einhard übrigens maßgeblich beteiligt gewesen sein dürfte, das vorausgeahnte Unheil aufzuhalten. Als alles Bemühen sich als Illusion erwies, lange nach Karls Tod, erinnerten die Dichter, die Legenden- und Geschichtsschreiber an scheinbar glücklichere Zeiten.
Einer der Ersten, die es taten, war eben dieser Einhard. Er zeichnete nach dem Muster von Suetons Augustus-Biografie ein ideales Bild seines Helden. Es geschah, als die ersten Anzeichen von Erschütterung und Auflösung des großen Karlsreiches sich bemerkbar machten und Kleinmut und Unbeständigkeit am Hof ihren Einzug hielten. Bald sollte sich Einhard, enttäuscht und desillusioniert, vom Hofleben abwenden. Der Literat, der zugleich ein Politiker war, rühmte nun Großmut und Standhaftigkeit des toten Königs und Kaisers, magnanimitas und constantia, – eben weil die Gegenwärtigen dieser Tugenden ermangelten. Karl wurde ihnen als Spiegel vorgehalten. Doch was vermochten schon Worte im Machtkalkül der Großen? Einhard teilte das Los eines jeden Intellektuellen: Er kam zu spät. Ludwigs Erziehung in der Provinz und durch dieselbe holte den Gesamtherrscher ein. Was der Vater in 45 Jahren gebaut, riss der Sohn in 25 Jahren oder noch schneller nieder. Einzig dem Mönchtum hinterließ er, beraten von Benedikt von Aniane, dem eigentlichen Vater benediktinischen Mönchtums, Bleibendes. Es zeitigte Folgen auch für das Karlsbild.
Einhards Vita Karoli war ein glänzendes Werk, viel gerühmt, weit verbreitet, wieder und wieder gelesen und in den historiografischen Grundbestand des Frankenreiches und seiner Nachfolger eingeflochten. Im Mönchtum aber regten sich düsterere Stimmen, die nicht oder nicht vorbehaltlos in den reinen Lobgesang einstimmen mochten. Erschrecken und aufrütteln sollten sie stattdessen. Eine dieser Stimmen war die Visio Wettini, die Jenseitsschau eines Reichenauer Mönchs namens Wetti auf dem Totenbett, eine im Ursprung vielleicht echte „near-death-experience“. Sie ist als Prosa-Aufzeichnung überliefert und wurde von Walahfrid Strabo, dem berühmtesten Dichter der Reichenau, zudem in Verse gesetzt; zahlreiche Handschriften verbreiteten sie und hielten das Wissen um Karl den Sünder lebendig.4
Der Sterbende pries und lobte den fränkischen Kaiser ob seiner Sorge für die Kirche und verdammte ihn zugleich ob seiner Sünden. Er schaute ihn, den Vater des regierenden Ludwig des Frommen, als abschreckendes Beispiel an den Läuterungsberg verbannt und heimgesucht von schlimmster Pein. Die Mönche der Reichenau und im Reich und nicht zuletzt die Herren am Hof sollten