Warnung vor Büchern. Erzählungen und Berichte. Ханс ФалладаЧитать онлайн книгу.
Hans Fallada
Warnung vor Büchern
Erzählungen und Berichte
Herausgegeben von Carsten Gansel
Reclam
2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2021
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961870-8
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014081-9
[9]I Ich übe mich im Dialog
[11]Ich übe mich im Dialog
Ich weiß, ich kann keinen Dialog schreiben. Ich möchte aber auch gern solch witzigen, überraschenden, schlagfertigen Dialog schreiben können, wie ihn alle Leute in allen Zeitungen schreiben. Ich muss mich üben. Also:
Ich wunderte mich gleich über ihn. Im Café waren ein Haufen Tische frei, er kam aber direkt auf meinen Tisch zu und setzte sich daran. Indes ich eifrigst mit der Zeitung beschäftigt tat, sah ich doch, dass er seinen Hut, einen steifen schwarzen Hut, aufbehalten hatte, was in deutschen Kaffeehäusern nicht üblich ist.
»Ist das Berliner Tageblatt frei?« fragte er.
Dies war stark, ich las gerade die erste Seite.
»Wie Sie sehen, nein«, antwortete ich.
»Ich muss dringend etwas nachsehen«, sprach er weiter, ohne auf meine Antwort zu achten.
»Nein«, sagte ich beharrlich.
»Vielleicht steht nämlich etwas von Charlotta drin« – und nahm mir die Zeitung aus der Hand.
Nun hätte ich aufspringen müssen und ihn ohrfeigen, ich gebe das zu. Was wurde dann aus meinem Dialog? Eine Schlägerei. Nein.
»Ober, bringen Sie dem Herrn zu seiner Zeitung einen Kognak«, rief ich und lehnte mich zurück.
Er warf die Zeitung wutbebend auf die Erde und sah mich zornfunkelnd an: »Sie wollen mich beleidigen?« rief er. »Mein Herr!« rief er.
»Ich will Ihnen einen Kognak bezahlen«, sprach ich.
»Hier ist meine Karte!« schrie er und warf sie auf den Tisch.
[12]Gerade kam der Ober mit dem Kognak. »Lesen Sie das Dings vor«, sagte ich zum Ober.
Der Ober stellte den Kognak vor den Herrn mit der Melone, nahm die Karte, kniff einen Klemmer auf die Nase und las mir vor wie folgt: »Eberhard, Graf von Waldelfingen, Oberst der Reserve, Ritter vieler Orden, pe – pe –«
»Es ist gut«, sagte ich, »geben Sie dem Herrn sein Eigentum zurück.«
Der Ober legte die Karte neben den Kognak vor den Oberst und entfernte sich. Mein Gegenüber lächelte plötzlich: »Ich sehe, Sie sind ein starker Gegner. Sie haben natürlich gleich gemerkt, dass ich mit Ihnen Streit anfangen wollte. Es war mir, weil ich mich über Charlotta geärgert hatte …«
»In der Tat …?« fragte ich höflich. Ich wusste nichts anderes zu bemerken.
Er redete nicht weiter. Er nahm seinen steifen schwarzen Hut ab und sah starr hinein. Er seufzte tief und setzte den Hut neben sich auf die Erde. Der Ober glitt rücklings auf Gummi heran und hing den Hut an den Ständer.
»Denken Sie«, nahm er die Unterhaltung wieder auf, »als ich heute nach Hause komme, liegt diese Karte im Entree.«
Er deutete auf das Kartonblättchen vor sich.
»Ihre Karte«, sage ich.
»Nein, die Karte vom Oberst.«
»Sie sind doch der Oberst, Ritter vieler Orden, pp.«
»Der Oberst stand in meinem Salon.«
»Dann haben Sie mir eine falsche Karte gegeben …?«
»Lassen Sie mich die Sache von Anfang erzählen«, bat er flehend. »Es wird sich alles klären. Zuerst der Hut …«
[13]Er sah auf die Erde neben sich: der Hut war nicht da. Er saß erstarrt.
»Der Hut hängt am Garderobenständer hinter Ihnen«, sagte ich freundlich.
»Zum Teufel auch!« rief er, sprang auf, ergriff den Hut, sah hinein und kehrte an meinen Tisch zurück. Er setzte den Hut wieder auf die Erde, sah ihn zweifelnd an, hob ihn von neuem empor und legte ihn auf seine Knie.
Ich hatte all das mit interessiertem Auge verfolgt. »Auch der Hut ist in die Sache verwickelt?«
»Eingelocht ist er!« rief er dumpf. »Sehen Sie!«
Er wies ihn. Es musste ein teurer Hut sein, eine feine englische Firma stand drin. »Haarhut?« fragte ich.
Er nahm seinen Finger und stieß oben gegen die Höhe der Wölbung. Es war ein dreieckiges Loch durch Haar und Seidenfutter, wie von einem Säbel gestochen, nun öffnete sich’s.
»Der Oberst?« fragte ich voll Teilnahme.
»Derselbe«, antwortete er düster.
»Er stand in Ihrem Salon?«
»Als ich seine Karte las.« Er raffte sich auf. »Ich will es Ihnen von Anfang an erzählen. Charlotta.«
»Ihre Frau Gattin?« erkundigte ich mich.
»Nein, seine.«
»Des Obersten?«
»Richtig. Also Charlotta rief mich heute früh an. Was sie eigentlich wollte, verstand ich …«
»Halten Sie ein!« rief ich. Er sah mich bestürzt an. »Sie beabsichtigen, eine Geschichte zu erzählen?, Ein Erlebnis?«
»Ein schmerzliches«, sagte er voll Wehmut.
»Das geht nicht«, sprach ich entschlossen. »Ich ließ mich [14]mit Ihnen nur ein, mich in witzigem, überraschendem, schlagfertigem Dialog zu üben. Für Erzählungen bin ich leider nicht zuständig. Ober, bitte zahlen!«
»Aber ich versichere Sie, es würde Sie namenlos interessieren!«
»Können Sie es in Dialogform erzählen? Mit verteilten Rollen?«
»Nein«, sagte er traurig.
»So bedauere ich ungemein«, sprach ich und verschwand.
Witziger, überraschender, schlagfertiger Dialog, wie ihn alle Leute in allen Zeitungen schreiben, ist furchtbar langweilig.
[15]Stimme aus den Gefängnissen
Ich habe vor kurzem nahezu fünf Monate Gefängnis in einer mittleren Strafanstalt Deutschlands verbüßt. Dabei habe ich eine Reihe von Beobachtungen gemacht, deren Mitteilung vielleicht nicht allein von dem Gesichtspunkt aus, dass jeder jeden Tag in Untersuchungshaft oder Strafhaft geraten kann, interessant erscheint. (Für Heuchler, die sich diese Gefahr leugnen, schreibe ich nicht.) Ich fühle mich ein wenig wie ein Reisender, der aus einem unbekannten Weltteil zurückgekehrt ist. Ich bin dort gewesen, wo die Seele seltsame Veränderungen erleidet oder, nach längerer Haft, schon erlitten hat, jene Veränderungen eben, die dem »Gebildeten« den »Gewohnheitsverbrecher« unverständlich machen. Den Verbrecher, der stiehlt, wie ein anderer arbeitet, ohne Erregung, selbstverständlich, wird man in der Literatur nicht finden. Er ist noch nicht entdeckt. Die Frage, ob er geworden ist oder von je so war, ist noch unentschieden.
Das Publikum beschäftigt sich kaum mit dieser Frage, es überlässt sie den Fachgelehrten: den Juristen und allenfalls noch den Psychiatern. Der Theologe, der sie auch für sein Arbeitsgebiet hält, geht von der sentimentalen Seite an die Sache heran, er spricht vom »Standpunkt des Lebens«, das »gerettet«