Himmelberg. Johannes HuckeЧитать онлайн книгу.
wieder machten sie Anstalten, mit den Geschmacksnerven des Gaumens zu überprüfen, was die Rezeptoren im Riechorgan mitgeteilt hatten ... doch ein jedes Mal fiel einem der beiden eine neue Geruchsnuance auf, die mit Empörung annonciert wurde, so dass sie einfach nicht zum Trinken kamen.
„Leder! Da sind ja Ledernoten drin!“
„Stimmt, wie kann denn so was kommen? Und irgend so was wie ... wie Brotaufstrich, igitt, aus dem Reformhaus ...“
„Nein, jetzt hab ich’s: Wurst! Das sind Wurstaromen! Rindswurst, Teewurst, Leberwurst ...“
„Pfui Teufel.“
„Nicht zu glauben.“
Als Paraskevi Pampukidis schließlich dazu überging, jene traumatisierende Situation zu schildern, da sie als kleines Mädchen in der Scheune ihrer Großtante den Kadaver ihrer seit Wochen verschollenen Schmusekatze fand und energisch repetierte „Genau so hat das gestunken! Genau so hat das gestunken!“, wusste sich Graf Adrian keinen anderen Rat mehr.
„Den müssen wir sofort abstechen.“
Sogleich wurde mit dem zahllose Male auf jedem Weingut geübten Vorgang, welcher der Trennung des Jungweins von den Trubstoffen dient, begonnen. Nach Beendigung der aufwändigen Prozedur sollte der Tank nahezu leer sein. In diesem Falle schien dem keineswegs so: Mit dem Ausdruck der Fassungslosigkeit starrte Adrian von Hoensbroech durch die Öffnung des großen Edelstahltanks hinein.
„Was? Was ist denn da?“ Gemeinhin ein Ausbund an Neugier und Wagemut, zeigten sich auf Evi Pampukidis Antlitz mit einem Mal Spuren von Furcht, als sie die Reaktion des Grafen wahrnahm.
„Schau nicht rein. Schau. Bitte. Nicht. Rein!“, wiederholte Adrian, schob den Deckel wieder über die Öffnung, hielt sich ein Taschentuch vor den Mund und griff nach seinem Handy.
Eine halbe Stunde später summte das Weingut von Kriminalbeamten, Experten der Spurensicherung und weiteren Fachkräften aus dem Wirkungsbereich der Exekutive, dass Außenstehende den Eindruck hätten gewinnen können, es handle sich um Dreharbeiten zu einem Polizeifilm. Der bedauernswerte Winzer musste sämtliche Tankdeckel aufschrauben, indessen die engagierte Praktikantin übergenug damit beschäftigt war, die zahlreichen Beamten davon abzuhalten, den reifenden Gewächsen Schaden zuzufügen. Währenddem koordinierte Gräfin Maria die Versorgung des Einsatzteams mit allgemeinen Informationen und speziellen Häppchen, inständig, wenngleich mit wenig Selbstüberzeugungskraft darauf hoffend, man habe sich geirrt, und all die fürchterlichen Nachrichten aus dem Weinkeller seien nichts als Falschmeldungen.
Der Untersuchungsbericht erwies sich als gekennzeichnet von desillusionierender Präzision. Seit etwa achtundzwanzig Stunden habe die Leiche eines ein Meter vierundsiebig großen und zweiundachtzig Kilogramm schweren Mannes, vermutlich aus dem arabischen Kulturraum entstammend, im Edelstahltank gelegen. Todesursache sei eindeutig ein Stich in den Hals, ausgeführt mit größter Vehemenz. – Wiewohl Graf Adrian zu Hoensbroech mehrfach beteuerte, zuletzt keinerlei Orientalen auf dem Gut gesehen zu haben sowie gleich mehrfach heraushob, dass er einem Weingut vorstehe und keinem Teehaus, sollte ihm die Leichenschau in den Räumlichkeiten der Gerichtsmedizin nicht erspart bleiben. Es war dies die zweite auf den Magen schlagende Missliebigkeit an diesem Tag, weshalb er es vorzog, erst nach dem Abendbrot nach Michelfeld zurückzukehren. Zuvor besuchte er einen engen Vertrauten in Hilsbach, von dem er wusste, dass dessen Spirituosenschrank starke und hochwirksame Kräuterschnäpse enthielt.
Als Graf Adrian heimkehrte, fand er die Familie um den Tisch versammelt. Zu seiner Erleichterung war das Abendessen schon abgetragen. – Der Vater, Graf Rüdiger, war vorzeitig in Berlin aufgebrochen, veranlasst durch zwei Anrufe. Kaum dass ihn seine Gemahlin von dem schauderhaften Fund telefonisch unterrichtet hatte, entdeckte er eine weitere Nachricht auf der Mailbox, die bereits zwei Tage alt war: Nasir Shansab, ein Herzensfreund aus Jugendtagen, gebürtig aus Afghanistan, hatte ihn angefragt, ob er ein paar Tage bei ihm auf dem Weingut unterschlupfen könne. Nicht zufällig weile er in Deutschland, überdies ohne Aufenthaltsgenehmigung; diverse Verschlechterung hätten sich ergeben, etwas wirklich Schreckliches sei passiert. Die Situation sei heikel und Hilfe dringend geboten; außerdem werde er verfolgt.
Dem Oberhaupt der Familie wurde es blümerant zumute: Wie schrecklich! Ein derartiger Notruf erreicht ihn erst nach zwei Tagen! Kombinierte er diese Nachricht mit den Informationen, die ihm seine Frau zuteil werden ließ, blieben nur zwei Möglichkeiten: Entweder Nasir war von seinem Verfolger in Michelfeld gestellt, getötet und in den Wein versenkt worden – oder aber, darauf wagte man kaum zu hoffen, der Freund hatte sich seines Widersachers entledigt; weshalb aber hätte er ihn dann in den guten Weißburgunder stecken sollen, auch noch ohne ihm Bescheid zu geben? – Kaum je zuvor hatte der Graf eine solchermaßen peinigende Reise unternommen wie diese von der Hauptstadt in die Heimat. Seine Nerven waren bis zum Äußersten angespannt.
Nur darauf war zurückzuführen, dass er den Sohn, kaum dass er ihn begrüßt hatte, schonungslos befragte:
„Wie sah sie aus?“
„Was? Wer?“ Auch Adrian von Hoensbroech hatte sich noch nicht erholt. Entsprechend wenig Feingefühl prägte seine Entgegnung.
„Die Leiche natürlich“, beharrte der Senior.
Das Mienenspiel des Sohnes bestätigte sogleich die Vermutung, dass es kein erheiternder Anblick gewesen sein konnte.
„Ich erkläre gleich“, fügte Graf Rüdiger zu Hoensbroech an, „warum ich das wissen muss.“ Einem Kuvert entnahm er eine Fotografie, die einen bärtigen schlanken Herrn mit arabischen Zügen zeigte, offensichtlich zwischen sechzig und siebzig Jahre alt, gehüllt in einen auffallend eleganten Mantel. „Könnte es sein ...“ Hier unterbrach der Senior sich selbst, senkte einen Moment lang das Haupt und fuhr fort: „Könnte es sein, dass es sich bei dem Toten um diesen Mann gehandelt hat?“
„Das geht ja zu wie heute Nachmittag“, warf Gräfin Maria ein. „Da mussten wir auch dauernd Fotos anschauen.“
„Bitte“, insistierte Graf Rüdiger. „Ist es möglich?“
Mit einem Ausdruck im Gesicht, als müsse er einen weiteren in Wein marinierten Erschossenen identifizieren, schaute Graf Adrian auf das Bild.
„Eher unwahrscheinlich. Wobei, ... auch schlanke Menschen schwemmen auf, wenn sie ...“
„Adrian, bitte!“, unterbrach ihn die Mutter, woraus man ersehen konnte, dass dieser Tag auch an ihr nicht spurlos vorübergegangen war.
In den folgenden Stunden berichteten die Mitglieder der gräflichen Familie einander en détail, was man erlebt hatte, welche Umstände man vermute, welche Hoffnungen und – mehr noch – welche Befürchtungen man hege. Den breitesten Raum nahm dabei Reichsgraf Rüdigers Schilderung der Geschichte seiner Freundschaft mit dem Spross aus vermögender, gebildeter afghanischer Tuchhändlerfamilie ein. Im Internat zu Salem hatten sie einander kennengelernt, waren über Schul- und Studienzeit hinaus in Kontakt geblieben; dann entzweiten sich ihre Wege. Den Freund zog es zurück nach Afghanistan, wo er – noch zur Zeit der sowjetischen Besetzung – Reichtum und Ansehen seiner Sippe beträchtlich zu mehren verstand.
Nur ein einziges Mal – „da warst du noch ein Knabe, Adrian“ – sei Nasir anlässlich eines Handelsabkommens mit Deutschland zu Besuch in Michelfeld gewesen. „Vermutlich kannst du dich nicht an ihn erinnern.“
Verhältnismäßig spät entschloss sich die Gräfin, dem krisenstabsartigen Zusammenkommen ein wenig Form zu geben und holte eine Flasche vom besänftigenden Roten eines spanischen Weinguts aus dem Raritätenschrank.
„Damit wir besser schlafen können.“
Auch Weine kann man überfordern. So sehr sich der Spanier auch mühen mochte, mit der Auslöschung all jener frischen Ängste und Furchtsamkeiten zeigte er sich denn doch überfordert. Indessen beide, Mutter und Sohn miserabel schliefen, da ihnen unablässig Szenen des Tages durch den Sinn geisterten, lag Graf Rüdiger vollkommen wach, der Prüfung wegen, die ihm morgen bevorstehen sollte. Wie sollte er den Anblick Nasirs ertragen, entstellt und aufgedunsen und – vor allem – tot? – Da erlöste ihn gegen halb vier Uhr