Die große Sache. Heinrich MannЧитать онлайн книгу.
überhaupt denkbare Glück der Erde vereinigt. Er bemerkte selbst, daß er schon sehr bescheiden geworden sein müsse hinsichtlich des Glückes. Seine Frau ihrerseits entsetzte sich, wenn sie erfuhr, daß er sogar fremden Kindern oder ihren Eltern geholfen hatte, indes seine eigenen unversorgt waren. Er hätte sich wahrhaftig damit begnügen können, von seinem Fenster aus im öffentlichen Park die Vögel zu füttern. Sie erschrak aber im Grunde über die Nachdenklichkeit, die aus solchen Handlungen sprach. Früher war mit ihm alles nüchterner und stärker zugegangen. Es war leichter faßbar gewesen für Laien.
Dies fand er selbst. Aber sein Dasein als erfolgreicher Techniker erschien ihm nachträglich etwas zu genau ausgerechnet. Er würde, wenn nicht alles Erworbene auf außergewöhnliche Art verlorengegangen wäre, vermutlich sehr reich geworden sein. Ingenieure waren schon hoch gestiegen. Dann, so dachte Birk, waren sie aber kaum noch Ingenieure, und das Vorrecht ihrer hohen Stellung war, daß sie andere verhinderten, für ihre Arbeit den richtigen Lohn zu fordern. Man hatte im Leben die Wahl zwischen Arbeit, Beziehungen und Verbrechen – sagte Birk. Vielmehr, man hatte nicht ganz die Wahl, nur konnte man zwei von ihnen zurückdrängen und in den gebotenen Grenzen halten. Persönlich hatte er sich immer nach Möglichkeit allein der Arbeit anvertraut. Er fand dies auch jetzt noch richtig, sah aber, daß sie zu nichts mehr führte. Das sah jeder.
Jeder sah, daß wir arbeiten müssen ohne Hoffnung auf übertriebene Belohnung. Sie zogen nur nicht die Folgerung, meinte Oberingenieur Birk. Es wäre so einfach, nichts weiter zu verlangen als die Arbeit selbst und unsere ziemlich gleichbemessene Notdurft. Aber sage dies einer den jungen Leuten! Sie sind nicht zufrieden mit einem Dasein, das ihnen von Anfang an restlos abgekauft wird von den großen Gesellschaften. Lebenslang nur der Bruchteil einer Kraft zu bleiben, nie selbst die ganze Kraft – die Aussicht machte sie widerspenstig oder schwach. Birk war eigentlich froh, daß es seinen Schwiegersohn Rapp widerspenstig machte.
Er liebte den Jungen, wie er nie geglaubt hätte, daß wir fremde Daseinsformen lieben und zu den unseren machen können. Tatsächlich hatten die Ereignisse gewollt, daß sein eigenes neueres Schicksal mehr dem der jungen Leute glich als einer Fortsetzung seines früheren. Er sah sich selbst, wenn er wollte, in der Rolle des empörten Jungen, der, endlich der Benachteiligungen müde, irgendein gegen ihn gerichtetes Gesetz über den Haufen wirft. Aber der Siebenundfünfzigjährige hatte doch mehr Lust, diese Rolle dem Dreißigjährigen zu übertragen. Daher hatte Birk sich letzthin sogar etwas ausgedacht, womit er Emanuel Rapp ganz und gar in Aufruhr zu versetzen hoffte. Die Sache lag fertig da und wartete nur auf ihre Gelegenheit. Birk verfolgte im Grunde erzieherische Absichten, gab freilich zu, daß sie gewagt waren. Er gehörte zu den älteren Leuten, die gegen Ende allmählich kühner werden. Dem entsprach die Sache, die er vorhatte.
Ihr letzter Ertrag sollte Freude sein, so meinte er: mehr Freude an dem Leben, wie es nun ist. Er hoffte der Jugend zeigen zu können, daß von den äußeren Bedingungen, die uns die Welt aufdrängt, alles, nur nicht die Freiheit unserer Seele abhängt. Birk trug sich mit drei Forderungen an sich und die Seinen: Lerne verantworten! Lerne ertragen! Lerne dich freuen!
Zweites Kapitel
Die Brücke überspannte alles zwischen der Stadt und den Industriebauten, die eine neue Stadt waren. Die Brücke führte in 42 Meter Höhe über Fluß, Kanal und Schienennetz. Sie bot den umfassendsten Ausblick, wenn jemand inmitten der Arbeiter ihr noch unfertiges Gerüst bestieg. Oberingenieur Birk hatte an schlechten Tagen droben ausgehalten, er stand auch am schönsten Morgen des Mai 1929 auf seiner Brücke. Es war ein erster, später Frühlingstag. Er forderte die Augen heraus, in die Luft zu schweifen; denn die Umrisse aller Gebäude, der alten drüben, der neuen hier, zerflossen darin, sie wurden leicht, und dies erleichterte auch das Herz.
Oberingenieur Birk sah einen Augenblick zu lange in die Frühlingsluft. Die Arbeiter in seiner Nähe retteten sich sämtlich vor dem schwingenden Balken. Ein eiserner Tragbalken, der heraufgewunden wurde, kam ins Schleudern. Es war eine ungeheure Last; von ihr nur gestreift zu werden konnte einen Menschen dauernd arbeitsunfähig machen. Birk wurde gestreift. Er brach zusammen, die Schreckensrufe hörte er schon nicht mehr.
Die Leute, die ihn aufhoben, fanden ihn so bleich mit seinen geschlossenen Augen, daß sie glaubten, es sei mit ihm zu Ende. Unten angelangt, es war schwer gewesen, sah er sie aber an und verlangte, nicht nach Hause, sondern ins Krankenhaus gebracht zu werden. Er wollte zu seinem Sohn in das Krankenhaus links des Flusses, schon in der Industriestadt. Es war übrigens näher, und seine Arbeiter brachten ihn, ohne erst das Krankenauto zu erwarten, auf ihren Händen hin. Sie hätten es für keinen anderen getan. Der junge Arzt untersuchte seinen Vater, als sie allein waren. Er hatte sogar die Oberschwester hinausgeschickt in seiner Erregung, jetzt fand er aber nur Quetschungen. »Ich habe auch nichts weiter«, sagte der Vater.
Auf die wortlosen Fragen seines Sohnes antwortete er: »Ich bin vom bloßem Schrecken ohnmächtig geworden. Es war nicht einmal mein eigener Schrecken – nein, ich dachte, als der Balken auf mich losfuhr, an deine Mutter. Deine Mutter ist tot. Aber wie wäre sie erschrocken! Als ich damals plötzlich operiert werden mußte, rief sie: ›Jetzt geht die Welt unter!‹ Daran dachte ich, wie der Balken kam, und verlor dann auch pünktlich das Bewußtsein – ihr Bewußtsein, sozusagen.«
»Du bist in acht Tagen wieder auf den Beinen«, versicherte der Sohn. »So lange behalte ich dich hier.«
»Nett von dir, Rolf. Übrigens kommt es mir nicht ungelegen, daß ich einmal ausruhen kann.«
»Ich verstehe«, sagte Rolf. Auch er selbst hatte schon verlernt, auszuruhen.
Birk sagte noch: »Der Unglücksfall gibt mir wenigstens Gelegenheit, meine Gedanken zu ordnen. Manche kleinen Pläne kämen sonst nie zur Ausführung. Es gibt im Leben doch noch andere Pläne, als was man zeichnet und ausrechnet.«
Er machte eine Pause, dann bat er den Sohn, zu telefonieren – an die hiesige Leitung des Konzerns natürlich, dann aber auch an die anderen Kinder. Mehrere von ihnen waren in den Büros des Konzerns erreichbar, die älteste Tochter Ella in ihrer Wohnung, die beiden Jüngsten vielleicht in ihren Fortbildungsschulen. Als Rolf schon gehen wollte, äußerte sein Vater einen etwas auffallenden Wunsch.
»Lasse sie nicht glauben, es wäre überhaupt nichts von Bedeutung. Du verstehst –«
Der junge Arzt verstand nicht im geringsten.
»Es wäre doch nicht rühmlich für mich.« Birk schien sich dies erst zurechtzulegen.
»Dreißig Jahre lang hat man sozusagen darauf gewartet, und dann macht man sich lächerlich mit einer Quetschung. Sprich wenigstens von Komplikationen, die du nicht vorhersehen kannst!«
Der Sohn nahm an, daß sein Vater von der Übertreibung materielle Vorteile erwartete. Er kannte ihn noch nicht so, wußte aber schon, wie man jetzt wird.
Es war ein Sonnabend, die Kinder konnten bald kommen. Birk lag die noch übrige Zeit in Gedanken, auch in dem Gedanken an Ella. Sie hieß nach ihrer Mutter, sie war die älteste Tochter, und sie war ihm bös. Er hatte sich als Vater nicht bewährt, wie sie und ihr Gatte meinten. Er hatte die ihr versprochene Mitgift zu nichts werden lassen, denn als sie heirateten, wütete die Inflation. Der Mann wollte es nicht verzeihen, daher auch Ella nicht. Birk hoffte, daß sie es bedauerte; ihn selbst quälte der Gedanke, sooft er für ihn Zeit hatte.
Jetzt fragte er sich, zwischen anderen Sorgen, immer wieder: wird Ella kommen? Er war gewiß, daß Inge und Margo, die mittleren, kamen. War irgend jemand noch pünktlicher, dann sicher Emanuel, der junge Gatte Margos. Birk hatte viele Kinder, die ihn liebten; die eine Ella aber beschäftigte ihn in seiner Lage mehr, als ihr zukam. Daran merkte er, daß es schwer gewesen wäre, plötzlich Abschied zu nehmen.
Er hatte schon einmal sich ohne jede Vorbereitung trennen müssen – von der Kleinen. Sie war lange Zeit die Jüngste gewesen und hieß immer noch die Kleine. Die Eltern hatten das Kind in einem Augenblick, als die Armut unausweichlich schien, in die Lehre gegeben. Es war ein Blumengeschäft, die Kleine trug Kränze aus. An dem Morgen, als sie sterben sollte, war der Kranz besonders schwer; sie kam nicht schnell genug über den Fahrdamm, so erfaßte sie das Lastauto. Der Kranz wurde beschädigt, daher konnte er später ohne Mehrkosten auf