Winterwundernacht. Группа авторовЧитать онлайн книгу.
Familie hatte ein Quartier in einem der Armenviertel gefunden. Die Mutter verdiente ein paar Kreuzer als Wäscherin. Hier war Fiete geboren worden. Das Leben auf dem Land, auf dem Bauernhof, die Namen der Großeltern und Verwandten kannte er nur vom Hörensagen. Er wusste nur zu gut, dass es für ihn und Jan dort nichts zu holen gab.
Nach dem Tod der Eltern war Jan und ihm nur die Straße geblieben. Ab und an hatten sie sich ein paar Groschen fürs Säckeschleppen verdienen können, wenn die Ladung eines Schiffs gelöscht wurde.
Aber vor zwei Wochen hatte er auch noch seinen großen Bruder verloren. Typhus.
Fiete war mit seinen acht Jahren ein dürres, blasses Bürschchen, das in seiner Filzhose und den viel zu großen Holzschuhen verloren aussah. Die Schuhe hatten Jan gehört. Bevor der Bestatter mit dem Sarg Jan abgeholt hatte, hatte Fiete seinem Bruder die Schuhe ausgezogen, denn seine waren ihm schon lange zu klein. „Im Himmel ist es weich und warm, da brauchst du keine Schuhe, Jan.“
Da war sich Fiete ganz sicher, und außerdem waren sie das einzige Andenken, das ihm von seinem großen Bruder geblieben war.
Ohne ihn fand Fiete keine Arbeit. „Verschwinde, du Laus!“, lachten diesselben Männer ihn aus, die ihn und seinen Bruder vor einigen Wochen noch hatten mitarbeiten lassen, wenn sie um Arbeit gefleht hatten.
An diesem Novemberabend war seine Schlafnische schon belegt. „Hau ab, oder es gibt was!“, riefen die großen Bengel hinter ihm her.
„Gott sei Dank! Sie haben meine Taschen nicht durchsucht!“, dachte Fiete erleichtert und spürte die Kohle, die Zündhölzer und das Brot zwischen seinen Fingern. Er probierte es an seiner zweiten Schlafstelle am Hafen. Zwischen den Salztonnen und Heringsfässern fand er Platz auf einer Holzkiste. Geschickt zündete er ein kleines Feuer an und aß das trockene Stück Brot zur Nacht. „Jetzt bloß schnell einschlafen, bevor das Feuer ausgeht“, dachte er sich. Kaum hatte er sich zusammengerollt, überkam ihn der Schlaf.
In dieser Nacht träumte Fiete etwas Seltsames; von einem wohlig warmen Haus. Jungen standen an Fenstern und lachten ihn an, als er dort an die Tür klopfte. Ein Mann öffnete ihm, gab ihm eine heiße Suppe und einen sauberen Strohsack für die Nacht. Und da war dieser Gesang. Fiete folgte ihm, die Treppe hinunter kam er in eine große Halle. Von einem großen Rad, das wie ein Kronleuchter unter der Decke hing, leuchteten viele Kerzen, und Knabenstimmen sangen: „Er ist die rechte Freudensonn, bringt mit sich lauter Freud und Wonn.“ Ein Mann nahm seine Hand und lächelte ihn an …
„He! Steh auf, du Wurm! Los jetzt! Hier schlafe ich!“ Unsanft hatte die Stimme des Einbeinigen Fiete aus seinen Träumen geweckt. „Kannst du nicht hören?“
„Bitte lass mich hierbleiben. Es sind meine Kohlen. Wir können doch zu zweit am Feuer sitzen.“
„Verschwinde oder ich erschlag dich mit meiner Krücke!“, drohte der Mann. Fiete wollte nicht weinen, aber Angst und Kälte trieben ihm die Tränen ins Gesicht. Gemäß dem Gesetz der Straße nahm der Stärkere mitleidlos seinen Platz am Feuer ein.
Der Schnee ließ nicht nach. Jeden Tag schneite es mehr. Müde und hungrig strauchelte Fiete durch die Straßen. Ihm war heiß, trotz der Kälte. Gegen Hunger und Durst aß er Schnee.
Am Ewigkeitssonntag brach er hustend vor einer Kirche zusammen. Im Pfarrhaus rang er mit dem Tod. Fiete hatte eine schwere Lungenentzündung. Pfarrer Lütke und seine Frau versuchten alles, um ihm das Leben zu retten. „Es ist noch zu früh für dich!“, hatte Jan ihm im Traum während der Krankheit gesagt. „Du wirst noch lange leben, Fiete!“ Fiete überlebte tatsächlich – dank der fürsorglichen Pflege, vieler Gebete und der kräftigen Hühnersuppe von Pfarrfrau Lütke.
„Fiete! Hier ist jemand, der dich kennenlernen möchte!“, sagte der Pfarrer eines Tages. Ein Mann war mit ihm ins Zimmer getreten. Er nahm Fietes Hand, und da erkannte er ihn: Es war der Mann aus dem Traum, der Mann, der seine Hand gehalten hatte. „Fiete, wie schön, dass es dir wieder besser geht. Ich bin Pfarrer Johann Hinrich Wichern. Ich wohne zusammen mit vielen Jungen in einem großen Haus. Du würdest gut zu uns passen. Wir brauchen so tapfere Jungen wie dich. Wir haben einen Bauernhof und einen kleinen Handwerksbetrieb. Bei uns gibt es eine Schule, auf der du lesen und schreiben lernen kannst, auch einen Beruf, wenn du möchtest.“
„Ich will Seemann werden wie mein Vater“, sagte Fiete mit schwacher Stimme. „Gibt es auch eine heiße Suppe und einen sauberen Strohsack bei Ihnen?“
„Auch das. Wir sind eine Lebens- und Glaubensgemeinschaft und nehmen Kinder auf, die ein Zuhause suchen, so wie du. Jetzt zur Adventszeit treffen sich alle Diakone und alle Kinder morgens in der großen Halle. Unter einem großen Rad mit 23 Kerzen hören wir Geschichten und singen Lieder. In Vorfreude auf das Weihnachtsfest zünde ich jeden Tag eine weitere Kerze an. 23 Kerzen sind es bis Weihnachten. Jeden Tag eine kleine und jeden Sonntag eine große. Das letzte große Licht ist dann der Tannenbaum.“
Wieder erinnerte sich Fiete an seinen Traum. Das Haus, die Jungen, dieser Mann und dieser große leuchtende Kranz mit all seinen Kerzen. Jetzt sollte alles wahr werden?
„Und, Fiete? Was sagst du?“, fragte Pfarrer Lütke. „Willst du mit Pfarrer Wichern nach Horn ins Rettungshaus? Dort sind viele Jungen, die wie du auf der Straße gelebt haben, die keine Eltern mehr haben und niemanden, der sich um sie kümmert. Sie alle haben im Rauhen Haus ein Zuhause gefunden.“
„Ich will den Kerzenkranz sehen! Wann fahren wir endlich?“, rief Fiete und sprang aus dem Bett.
Noch am selben Tag ging es los. Frau Lütke hatte ihm Hemd und Hose, Jacke und Schal von einem ihrer Söhne gegeben. In eine warme Decke gehüllt verließ Fiete das Pfarrhaus. Zum ersten Mal in seinem Leben fuhr er in einer Kutsche. Etwas wehmütig verließ er die große, graue Stadt, denn sie war sein ganzes Leben lang seine Heimat gewesen. Vor ihm lag das weite, weiße Land, eine unbekannte, neue Welt.
Als es dunkel wurde, erreichten sie ein kleines Dorf. Die Kutsche hielt vor einem beleuchteten Haus. In den Fenstern standen Kerzen, in deren Schein erkannte Fiete die Gesichter der Jungen, die dort ein Zuhause gefunden hatten. Ein Mann öffnete ihm die Tür. Alles war wie im Traum.
Im Laufe der Zeit gewöhnte sich Fiete an den Takt des Hauses. Wie der Schlag einer Uhr waren die Stunden des Tages eingeteilt. Manchmal sehnte Fiete sich nach der großen Freiheit, dem Hafen und dem Duft der weiten Welt.
Aber dann duftete es im ganzen Haus nach heißer Suppe.
Abends stand ein sauberes Bett nur für ihn bereit. Zum ersten Mal in seinem Leben durfte Fiete lernen und spielen. Im Frühling bestellte er mit den andern Jungen das Feld. Im Sommer brachten sie zusammen die Ernte ein. An den Herbstabenden wurden Geschichten aus der Bibel erzählt und im Kerzenschein Spielzeug geschnitzt. Das Schönste aber war der Advent und Pfarrer Wicherns großer Kranz mit den 23 Kerzen.
Eines Tages hatte Fiete aus dem Wald Tannenzweige mitgebracht. Er legte sie zwischen die Kerzen auf das große Holzrad.
„Was machst du da, Fiete?“, fragte Pfarrer Wichern und schmunzelte. „Tanne – das Zeichen der Ewigkeit. Was für eine gute Idee, mein Junge!“
Fiete strahlte ihn an. „Jetzt ist es ein richtiger Adventskranz, Herr Pfarrer!“
HANNELORE SCHNAPP
Als wir den geheimnisvollen Schlitten fanden
Hallo, ich bin Semmel. Eigentlich heiße ich ja Gustav, aber so nennt mich höchstens mal Großtante Lene, die oben in dem Haus neben unserem wohnt. Neulich habe ich sie mit meinen Freunden Polly und Ole besucht. Sie backt nämlich jedes Jahr vor Weihnachten die besten braunen Kuchen, die ich kenne. Sie heißen aber nur Kuchen, in Wirklichkeit sind das ganz flache, dunkle Weihnachtsplätzchen, und Polly, Ole und ich haben