Tradition. Katherine V. ForrestЧитать онлайн книгу.
ist alles sinnlos, ohne Teddie …«
Der bleistiftdünne Latino saß zusammengesunken auf dem Rücksitz eines Streifenwagens, die Füße hingen seitlich aus der offenen Tür. Er hielt die Arme verschränkt und umklammerte verzweifelt seinen eigenen Körper. Kate und Taylor standen neben der offenen Wagentür.
»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«, fragte Kate. Mit Mühe hielt sie dem verzweifelten Blick des jungen Mannes stand, der zu ihr hochsah. Nach einem einzigen Blick auf Taylor hatte er seine Augen nicht mehr von ihr abgewendet. Obwohl sie wusste, dass dieser junge Mann ein Verdächtiger war, dass Mörder oft genauso viel oder sogar noch mehr Kummer zeigten als jeder andere, verspürte sie den fast unbändigen Wunsch, ihm tröstend über sein feines, weiches Haar zu streichen.
»Gestern Abend«, sagte er und wischte sich die Tränen ab. »Wir haben das Lokal um elf geschlossen.«
»Schließen Sie immer um elf?«
Er schüttelte den Kopf. »Wir hatten einen größeren Auftrag für eine Party heute Abend. Wir haben noch Marinaden und Saucen vorbereitet …« Er hob die Hand und ließ sie mit einer hoffnungslosen Geste wieder in den Schoß fallen. Er trug ein weißes Baumwolljackett über einem lindgrünen Hemd, dazu eine großzügig geschnittene graue Hose.
»Wer ging als Erster?«, fragte Kate.
Für einen kurzen Moment schloss er die Augen. Seine dunklen, feuchten Wimpern schimmerten im Sonnenlicht. »Teddie. Gloria hat ihn abgeholt.« Auf Kates fragenden Blick hin fügte er hinzu: »Gloria Gomez. Die beiden wohnen zusammen – drüben auf Crescent Heights.«
Teddie hatte also mit einer Frau zusammengewohnt. Trotzdem zweifelte Kate keinen Moment daran, dass Teddie Crawford schwul gewesen war. Ebenso wie Francisco Caldera. Vielleicht war die Frau, mit der Teddie Crawford zusammengelebt hatte, lesbisch. »Haben die beiden gesagt, wo sie hinwollten?«, fragte sie.
»Sie wollten ins Malone’s. Eine Bar in West Hollywood.« Mit bitterem Selbstvorwurf fügte er hinzu: »Teddie wollte, dass ich mitkomme. Aber ich war zu müde … wollte ja unbedingt ein bisschen Schlaf nachholen. Wenn ich nur mitgegangen wäre … vielleicht würde er jetzt noch …«
Kate dachte an Joe D’Amico vom kriminaltechnischen Labor, der dauernd irgendwelche Klatschgeschichten aus den Schwulenbars in West Hollywood und Silverlake zum Besten gab. Aber der Name dieses Lokals sagte ihr nichts. Vielleicht war es erst neu eröffnet worden? Oder vielleicht keine Schwulenbar? Beiläufig fragte sie: »Hat das Malone’s ein spezielles Publikum?«
»Gemischt. Es ist eine von Glorias Lieblingskneipen. Sie war da mit ihrem neuen Freund verabredet, um ihn Teddie vorzustellen.«
Gloria Gomez war also allem Anschein nach heterosexuell. Und das Malone’s zog eine bunte Mischung von Leuten ganz unterschiedlicher sexueller Orientierung und ethnischer Herkunft an, wenn sie Gloria Gomez’ Vorliebe richtig deutete.
»Diese Gloria«, sagte Taylor. »Wie hat sie sich mit Teddie verstanden?«
»Er war wie ein Bruder für sie. Alle mochten Teddie.«
»Mit einer Ausnahme offenbar. Erzählen Sie uns, was gestern Abend passiert ist.«
Caldera riskierte einen vorsichtigen Blick auf Taylor und schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, was geschehen ist, nachdem Teddie das Restaurant verlassen hatte.«
Kate beobachtete ihren Partner. Sobald Taylor einem Mann begegnete, der irgendwie anders war als er selbst, musste er sich sofort aufblasen und seine vermeintliche Überlegenheit zur Schau stellen. Das jähe Aufflammen von Zorn verdrängte jeden Anflug von Müdigkeit in ihr. Francisco Caldera mochte in einer durch und durch amerikanischen Mittelschichtsfamilie geboren und aufgewachsen sein – für Taylor war er ein Latino und sonst gar nichts.
»Haben Sie mit eigenen Augen gesehen, dass Gloria Gomez ihn abgeholt hat?«, fragte Taylor.
»Sie hupte von der Allee her. Sie fährt einen Honda Civic, ich kenne die Hupe.«
Kate zog ihr Hosenbein hoch, stellte einen Fuß auf den Boden des Streifenwagens und beugte sich so weit zu Caldera vor, dass sie ihn fast berühren konnte. »Bitte sagen Sie uns«, sagte sie freundlich, »wann Sie heute Morgen hierhergekommen sind und was Sie gesehen haben.«
»Ich bin so gegen sieben ins Lokal gekommen …« Er sah sie an, seine dunklen Augen feucht vor Tränen. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und versuchte so das Zittern seines Körpers in den Griff zu kriegen – ein vergebliches Unterfangen.
»Durch welche Tür sind Sie gegangen?« Taylor machte sich eifrig Notizen.
»Durch die Küchentür, wie immer. Dann sah ich Teddie dort liegen. Ich musste sehen, ob er … ich bin zu ihm gerannt … bin immer wieder ausgerutscht …«
Er senkte weinend den Kopf. Mit zitterndem Finger deutete er auf seine weißen Nike-Turnschuhe. »Das ist Teddies Bl …, das ist Teddies Blu …« Der Rest ging in erstickten Schluchzern unter.
Taylor fragte: »Haben Sie ihn berührt?«
»Ich weiß es nicht mehr, Sir.« Seine Stimme klang wie unter Wasser.
»Haben Sie die Leiche umgedreht?«
Caldera schüttelte den gesenkten Kopf. »Ich hatte Angst. Ich bin zum Telefon gerannt, dann kam die Polizei.«
»Warum hatten Sie Angst?«
Taylor sprach mit sanfter Stimme, aber Calderas Kopf zuckte hoch. »Ich habe noch nie einen Toten gesehen. Es war Teddie. Mein Freund, der beste Freund, den ich je …« Er wurde erneut von einem Weinkrampf geschüttelt.
Taylor sagte: »Sie wussten, warum er ermordet wurde, deshalb hatten Sie Angst, richtig?«
Caldera starrte ihn an, während er versuchte, die Tränen von seinen Wangen zu wischen. »Mann, wovon reden Sie?«
Kate musste eingestehen, dass Taylor gute Fragen stellte. Dennoch mischte sie sich ein. »Was können Sie uns über Teddies Bekanntenkreis sagen?«
»Er kannte Gott und die Welt. Er kannte die ganze Straße hier, alle Nachbarn, da, wo er gewohnt hat. Er kannte einfach jeden.«
»Seine Familie«, sagte Kate. »Wissen Sie etwas über seine Familie?«
Er sackte noch weiter in sich zusammen, eine Hand über den Augen. »Joe und Margaret werden einfach …« Er schüttelte den Kopf.
»Joe und Margaret?«, wiederholte Taylor, während er sich eine Notiz machte.
»Sein Onkel und seine Tante. Sie haben ihn aufgezogen. Sie wohnen in einem Wohnwagenpark in Lancaster, aber Teddie besucht sie – ich meine, besuchte sie, sooft er … konnte. Oh mein Gott … er ist tot.« Seine Tränen waren nicht mehr aufzuhalten.
Kate, die Francisco Caldera eingehend betrachtete, musste wie so oft in solchen Situationen daran denken, wie unterschiedlich Menschen – sie selbst eingeschlossen – auf einen Verlust reagierten. Die Leute waren entweder starr vor Schock und verhielten sich ruhig, fast normal, so wie sie es getan hatte, oder sie wurden vom Schmerz überwältigt. So schwierig es sein mochte, diese Qual mitanzusehen – den Schmerz herauslassen zu können hatte zumindest den Vorteil, dass der Trauerprozess in Gang und Heilung in Aussicht war.
»Es tut mir leid«, sagte Kate. »Ich weiß, dass dies sehr schwer für Sie ist. Aber um den Täter zu fassen, müssen wir so schnell wie möglich mit unseren Ermittlungen beginnen.« Sie fragte: »Hatte Teddie irgendwelche Feinde? Fällt Ihnen jemand ein?«
»Nein, niemand. Ich versichere Ihnen, Teddie war überall beliebt.«
»Jeder hat Feinde«, konstatierte Taylor.
»Teddie nicht«, beharrte Caldera mit ruhiger Überzeugung.
»Kennen Sie seine Freundin?«
»Freundin?« Caldera sah ihn an. »Teddie war schwul. Wie ich.«
Da war es. Kate staunte, mit welcher Selbstverständlichkeit