Marx als Philosoph. Alfred SchmidtЧитать онлайн книгу.
sich die historischen Tatsachen zurechtschneidet«, sondern als »Leitfaden beim […] Studium« (Engels, 18901). Dabei halten sie am authentischen Begriff von »Ideologie« fest. Sie ist falsches Bewusstsein, gesellschaftlich notwendiger Schein. Mannheims Versuch, Marx akademisch zu entschärfen in einer relativistischen Wissenssoziologie der »Seinsverbundenheit« allen Denkens wird von Horkheimer und seinen I Schülern ebenso verworfen wie eine Orthodoxie, die den Ideologiebegriff dadurch aufweicht, dass sie ihn ins Affirmativ-Weltanschauliche verkehrt.
Marx zählt, neben Nietzsche und Freud, zu den großen »Entzauberern« der Moderne. Er durchschaut den im strengen Sinn »oberflächlichen« Charakter der politischen Prozesse, Kulturphänomene und unmittelbaren Bewusstseinsweisen. »Jeder wirkliche Fortschritt in der modernen Geschichtsschreibung«, schreibt Marx 1858, »ist dadurch bewirkt worden, daß man von der politischen Oberfläche in die Tiefen des gesellschaftlichen Lebens« – gemeint sind ökonomische Strukturen – »hinabgestiegen ist.« Und im ersten Band des Kapitals heißt es, die »Geschichte des Grundeigentums« bilde die »Geheimgeschichte« der römischen Republik.
An diesem detektivisch-analytischen Grundzug des Marxschen Materialismus halten die Vertreter der Frankfurter Schule fest. Er ist für sie – zumal in seiner Anwendung auf die kapitalistische Ära – begrifflicher Ausdruck eines Zustands, »worin« – so Marx abermals im Kapital – »der Produktionsprozeß die Menschen, der Mensch noch nicht den Produktionsprozeß bemeistert«. Dass gesellschaftliches Sein über Bewusstsein gebietet, ist ein aufzuhebender Zustand – kein weltanschauliches Dogma.
Marx entwickelt die der Aufklärung und dem deutschen Idealismus entstammende Idee der Selbstbestimmung des Menschengeschlechts weiter, indem er die ökonomisch-materiellen Bedingungen aufdeckt, deren es bedarf, um sie zu verwirklichen. Es gilt, schreibt er 1853, »die Ergebnisse der bürgerlichen Epoche, den Weltmarkt und die modernen Produktivkräfte […] der gemeinsamen Kontrolle der am weitesten fortgeschrittenen Völker« zu unterwerfen. Erst dann – hierin fasst sich das Wesen seiner Geschichtsphilosophie zusammen – »wird der menschliche Fortschritt nicht mehr jenem scheußlichen heidnischen Götzen gleichen, der den Nektar nur aus den Schädeln Erschlagener trinken wollte.«
Noch ist die Menschheit verstrickt in Naturgeschichte. Sie bringt zwar ihren historischen Prozess selbst hervor, »aber nicht« – wie der späte Engels, anspielend auf eine Formulierung Kants sich ausdrückt – »mit Gesamtwillen nach einem Gesamtplan«; dem kollektiven Intellekt nicht unterworfen, nimmt jener Prozess Züge eines mythischen Verhängnisses an, eines blinden, seinen Agenten entfremdeten Naturgeschehens. Marx wirft (hierin durchaus mit Nietzsche, seinem vermeintlich säkularen Gegner verwandt) eine erdumspannende, ökumenische Frage auf. Sie bedarf dringend der Lösung. Ob sie freilich mit den bis heute entwickelten planwirtschaftlichen Instrumentarien zu bewältigen ist, steht dahin.
Thesen zum Begriff der Natur bei Marx
I
Die Aufklärungsphilosophie, zumal die französische, bereitet den Marxschen Naturbegriff insofern vor, als sie in der Natur nicht nur ein Gutes, gesetzmäßig Geordnetes erblickt, dem zu folgen nur moralische Aufgabe des Menschen ist, sondern ebenso – und dieser Aspekt wurde schließlich zum vorherrschenden – ein technisch-ökonomisch nutzbares Material. Mit dem Aufkommen spezifisch bürgerlichen Erwerbsdenkens und -lebens wird Natur zu etwas der Gesellschaft jederzeit – und zwar in stets nämlicher Weise – Dienstbarem. Selbst für Rousseau ist der »Naturzustand« einer durchorganisierten Gesellschaft nicht entgegengesetzt; vielmehr bezeichnet er diejenige Lebensform, bei der Natur als wesentlich spendende, menschlichen Zwecken zugängliche und unterstellte Macht auftritt.
II
Demgegenüber lässt sich das qualitativ Neue der Marxschen Naturkonzeption mit dem im »Kapital« auftauchenden Begriff des »Stoffwechsels von Mensch und Natur« ausdrücken. Ganz wie die Aufklärung sieht Marx die Natur primär unter dem Aspekt ihrer Aneignung, um menschliche Bedürfnisse zu befriedigen. Aber er geht insofern über das 18. Jahrhundert hinaus, als er die Beziehungen zwischen Mensch und Natur konkret-historisch analysiert. Dabei geht es weniger um das (auch dem materialistischen Flügel der Aufklärer geläufige) Faktum der Naturentsprungenheit des Menschen als vielmehr darum, die jeweils geschichtlich bedingte Gestalt des produktiven und konsumtiven Verhältnisses der Gesellschaft zur Natur zu untersuchen.
Das dem Begriff des »Stoffwechsels« zugrundeliegende, von der Aufklärung aus spezifisch ideologischen Gründen nicht explizierte Sachmoment ist die gesellschaftliche Arbeit, die mit ihr gesetzte Arbeitsteilung und Notwendigkeit sozialer Klassen. Mit dieser Einsicht geht bei Marx einher, dass das natural Gegebene stets schon den Charakter eines – potenziellen oder aktuellen – Produkts hat; dass es sich keineswegs in reiner Unmittelbarkeit bloß darbietet, sondern, wie es im Kapital heißt, »Rohmaterial« als »Arbeitsgegenstand« nur ist, sofern es »bereits durch Arbeit vermittelte Veränderung erfahren hat.« Verglichen damit erscheint den Aufklärern bei allem technologischen Verständnis die Natur eher als leicht zugängliche Frucht denn als zu formierendes Material.
III
Die gesellschaftliche Vermittlung der Natur darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Gesellschaft auch natürlich vermittelt ist. Marx beharrt darauf, dass die Menschen ihre Zwecke nur in dem Maße gegenüber der Natur verwirklichen können, wie sie sich der Eigenbestimmtheit des natürlichen Materials versichern. Auch die kollektiv wirkenden Menschen, ohne welche es eine dem individuellen Bewusstsein »erscheinende« Gegenstandswelt nicht gäbe, gehören dieser immer schon an. Mit dem ökonomischen Übergang von der agrarisch-feudalen zur industriell-kapitalistischen Gesellschaftsformation stellt Natur sich stets mehr als ein »Erzeugtes«, stets weniger als ein schlicht »Gegebenes« dar. Je methodischer das natürliche Sein in den sozialen Lebensprozess einbezogen wird, als desto unangemessener erweist sich ein Begriff von Erkenntnis, der sich im Nach- und Abbilden an sich seiender Strukturen erschöpft. Dem trägt der deutsche Idealismus von Kant bis Hegel insofern Rechnung, als er nachweist, dass von einer schlechterdings subjektunabhängigen »Welt des naiven Realismus« nicht die Rede sein kann. Marx bleibt darin der von der idealistischen Philosophie aufgeworfenen Problematik verpflichtet, als er am traditionellen Materialismus beanstandet, dass er die Wirklichkeit auf die anschaulich oder mathematisch gegebene physikalische Körperwelt reduziert. Diese wird so im strengen Sinn einseitig behandelt: »unter der Form des Objekts«. Marx kommt es darauf an, eine nicht-subjektivistische Theorie der Subjektivität zu entwickeln, welche die Abstraktion eines »weltlosen« Subjekts ebenso vermeidet wie die einer »subjektlosen« Welt. Der hier zuständige Begriff ist der zumal vom jungen Marx verwandte der »Praxis«, dem nicht allein eine anthropologische Bedeutung zukommt, sondern dessen erkenntnistheoretischer Gehalt entscheidend ist. Durchbrochen wird hier das herkömmliche Schema von passiver Sinnlichkeit (Materie) und aktivem Denken (Verstand, Begriff). Zur neu erfassten Materialität des Marxschen Materialismus gehört die menschliche Praxis als tätige Sinnlichkeit, sinnliche Tätigkeit.
IV
Als ein Ganzes von Produktionsverhältnissen umschreibt die jeweilige geschichtliche Praxis die allgemeinen Bestimmtheiten des Horizonts, worin die an sich seiende Welt als eine Welt »für uns« erscheint. Nochmals sei daran erinnert, dass hier kein bloßer Historismus oder Soziologismus vorliegt. Die Gesellschaft bestimmt lediglich das Maß, in dem die extensive und intensive Unendlichkeit der Welt von uns angeeignet ist; ihre kritische Analyse ermöglicht es, die Tätigkeit der Naturforscher metatheoretisch zu hinterfragen, aber sie hat stets mit einer Seinsstruktur (unverwirklichter Möglichkeiten) zu rechnen, die aller menschlichen Geschichte und Gesellschaft vorausliegt.
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