Fass mich nicht an!. Reinhold RutheЧитать онлайн книгу.
desto weniger werden Drohung und körperliche Gewalt angewendet.
Ausdrücklich muss an dieser Stelle noch einmal betont werden, dass oft in Heimen, in sogenannten Fürsorgeeinrichtungen, wo im vorigen Jahrhundert „Verwahrloste“, Disziplinlose, Verwilderte, Gestrandete, kriminelle Jugendliche – wie die Beurteilungen damals lauteten – untergebracht waren, der sexuelle Missbrauch durch Strafen, Arrest, Demütigungen und zweifelhafte Machtausübung ausgeübt werden konnte. Diese Strafmaßnahmen geschahen nachweislich noch bis in die Siebziger- und Achtzigerjahre. Auch in christlich geführten Häusern waren diese Praktiken üblich.
Wenn ich den Bericht des Landesjugendamtes im Rheinland4 lese, der die öffentliche Erziehung von 1945 bis 1972 schildert, kommen auf 587(!) Seiten nahezu keine Berichte von sexuellem Missbrauch vor. Und die drei bis vier Fälle, die angedeutet werden, enden in der Regel positiv für die Täter. Oft wurde den Jugendlichen nicht geglaubt, denn sie wurden ja nicht umsonst in diesen Einrichtungen untergebracht.
Sexueller Missbrauch – kein reines Männerverbrechen
Viele sind der Meinung, sexueller Missbrauch sei ein reines Männerverbrechen. In der bisherigen Darstellung konnte durchaus der Eindruck entstehen. Aber das ist in Wahrheit anders. Auch Frauen und Mädchen gehören zu den Täterinnen. Dazu schreibt Elisabeth Raffauf:
„Unvorstellbar ist es, dass Frauen so etwas machen könnten. Noch dazu die eigenen Mütter. Das ist ein Gedanke, gegen den sich alles wehrt. Das darf nicht sein, das entspricht nicht unserem Frauenbild, schon gar nicht dem Bild der fürsorglichen Mutter. Tatsache aber ist: Ungefähr neunzig Prozent der Täter von sexueller Gewalt gegen Mädchen sind männlich. Ungefähr zehn Prozent sind weiblich. Wenn Jungen Opfer werden, so sind Täter sogar zu etwa 25 Prozent weiblich. Weibliche Täter sind also gar nicht so selten, wie man denkt.“5
Übergriffe von Kindern und Jugendlichen
Im Grunde müsste ein Extrakapitel dieses Thema behandeln. Denn hier sprechen erschütternde Zahlen für sich. Wie kann man das verstehen, dass Jugendliche gegenüber Gleichaltrigen und Jüngeren sexuell übergriffig werden? Statistisch gesehen sind ein Drittel aller Täter selbst noch Kinder, Jugendliche oder Heranwachsende.
Auch unter Geschwistern ist sexueller Missbrauch relativ häufig. Ein amerikanischer Sozialwissenschaftler, David Finkelhor, ist sogar der Meinung, dass dies die häufigste Missbrauchsform ist. Die Dunkelziffer für diese Missbrauchsform sei erschreckend hoch. Er geht jedoch davon aus, dass selten ein kleines Mädchen seinen älteren Bruder anzeigt. Jedes vierte bis fünfte Mädchen und jeder zwölfte Junge wird Opfer von sexueller Gewalt. Die Missbrauchsrate bei behinderten Kindern ist besonders hoch. Sie werden zwei- bis dreimal häufiger Opfer von sexueller Gewalt. Sie verstehen erst recht nicht, was mit ihnen geschieht.
Sie akzeptieren und schweigen und können sich nicht wehren.
„Untersuchungen bestätigen, dass etwa 12 Millionen Menschen in Deutschland im Laufe ihrer Kindheit und Jugend in dieser oder jener Form sexuell missbraucht wurden. (…) Anita Heiliger, Missbrauchsforscherin am Deutschen Jugendinstitut, zeigt auf, dass immer mehr Kinder und Jugendliche einander sexuell missbrauchen. Das bedeutet also, dass die 14 – 16-Jährigen die insgesamt höchste Risikogruppe ausmachen, sexuellen Missbrauch an Kindern zu begehen (…). In der Altersgruppe der 14 – 16-Jährigen kam es in den letzten 15 Jahren zu mehr als einer Verdoppelung (bei sexuellen Gewaltdelikten).“6
Der Verein Zartbitter, Kontakt- und Informationsstelle gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen und Jungen berichtet,
dass ältere Grundschulkinder bereits einen unkontrollierten Medienzugang haben und grenzverletzende Handlungen als normal empfinden,
dass eine Reihe Kinder Pornos im Elternhaus konsumieren und die belastenden Bilder benutzen, um sie wieder in der Praxis neu zu beleben,
dass noch vor zehn Jahren Mädchen und Jungen im Kindergartenalter nur in Ausnahmefällen orale Praktiken von Erwachsenen nachmachten, während heute laufend Mütter nachfragten, ob praktizierte orale Praktiken altersentsprechend wären.
Auch eine Erzieherin, die eine evangelische Tagesstätte für Kinder der Diakonie in Düsseldorf leitet, hat Regeln und ein Konzept veröffentlicht, das an Großzügigkeit nichts zu wünschen übrig lässt. Sie bejaht,
dass in Kuschelecken Kinder die Möglichkeit haben, sich „Penis und Scheide“ unbefangen anzuschauen;
dass Kinder im Kindergarten ihren Körper entdecken und ihre Geschlechtsorgane berühren und streicheln dürfen;
dass Doktorspiele erlaubt sind, wobei große Kinder und Erwachsene da keinen Zutritt haben;
dass bei allen Spielen sich Kinder keine Gegenstände in die Körperöffnungen stecken dürfen.7
Kinder werden von Geburt an als sexuelle Wesen betrachtet. Sie kennen keine Trennung von Zärtlichkeit, Sinnlichkeit, Schmusen und genitaler Sexualität. Die Sexualität darf in allen Formen ausprobiert werden. Es geht um Lustgewinn. Sexualität ist eine Energiequelle, die Liebe wird ausgeklammert. Dass sich hier für die späteren Erwachsenen Defizite ergeben, sollte auf der Hand liegen.
Liebe, Verbindlichkeit, Treue, Zusammengehörigkeitsgefühle und Innigkeit werden unterschlagen. Partnerwechsel und späterer Partnermissbrauch liegen auf der Hand. Wenn der Partner die sexuelle Befriedigung nicht mehr gewährleistet, wird er ausgetauscht. Denn zur Liebe kann man nicht erziehen, meinen viele Verantwortliche. Außerdem sei es unmöglich, Liebe allgemeingültig zu definieren.
Missbrauchsopfer üben Missbrauch
Dieser Zusammenhang ist für alle Begründungen hilfreich.
Die Motivation für diese Form des Missbrauchs lautet so:
„Etwa die Hälfte aller Menschen, die sexuellen Missbrauch begehen, hat selbst sexuelle Gewalt erfahren. So wird, auf den ersten Blick scheinbar absurd, dieses schändliche und als traumatisch erlebte Verhalten von einer Generation an die nächste weitergegeben.“8
Mit anderen Worten: Missbrauchserfahrung prägt unser Bewusstsein und unser Unbewusstes. Alles, was mit schönen Gefühlen zu tun hat, wird in der Missbrauchsverpackung gelernt und erfahren. Alle sexuellen Beziehungen sind von vornherein unter problematischen Umständen gemacht worden.
Auch die Erfahrung muss gehört werden: Sind Kinder und Jugendliche beim Missbrauch „gut“ behandelt worden, setzt sich in den Köpfen von Missbrauchsopfern fest, gute Behandlung und Übergriffigkeit gehören zusammen. Sie praktizieren später ähnliche Verhaltensmuster.
Kinder, die mit Verwahrlosung, Isolation und Einsamkeit zu tun hatten, werden leicht Opfer von Missbrauch, weil sie geliebt und gemocht werden wollen. Täter haben ein Auge dafür.
Alkohol, Drogen, K.o.-Tropfen und Betäubungsmittel
In den letzten Jahren berichten die Zeitungen oft über „Komasaufen“ von Kindern und Jugendlichen, über ein Betrinken bis zur Bewusstlosigkeit.
Ist es nur eine Lust an Alkohol?
Sind es bewusst organisierte Proteste von Jugendlichen?
Wollen sie kleine Erwachsene spielen?
Ist Langeweile ein Auslöser?
Oder geht es versteckt auch um Missbrauch?
Eines Tages erscheint eine Mutter mit ihrer Tochter bei mir in der Beratung. Sie hat die Tochter gezwungen,