Das Abenteuer meiner Jugend. Gerhart HauptmannЧитать онлайн книгу.
alte übermütige Schlesien, das nicht mehr vorhanden ist.
Zwischen Weihnachten und Neujahr lud mein Vater befreundete Jugend Salzbrunns zu einer Veranstaltung, die er selbst erfunden hatte. Chinesische Lampions beleuchteten in kalter Mondnacht von oben bis unten und zu beiden Seiten den Kronenberg. Dreißig bis vierzig Handschlitten waren zusammengeborgt worden und wurden an ebenso viele Paare junger Herren und Damen verteilt. Auf der Steinterrasse vor dem Großen Saal, an der die Schlitten, jeder mit einem vergnügten Paar, vorbeirutschten, wurden heiße Getränke, Grog, Glühwein, Tee und Kaffee, bereitgehalten und an die immer lustiger werdenden Rodler gereicht. Ein Teil der Vorbereitungen zu solch einem Fest, nämlich das Zusammenholen der Handschlitten, wurde uns Kindern überlassen. Auch das bereicherte vielfach meinen Vorstellungskreis.
1 süßer, aus Ungarn stammender Dessertwein von hellbrauner Farbe <<<
Siebzehntes Kapitel
Freuden, die uns mein Vater machen wollte, liebte er durch Überraschung zu steigern. Einst wurden mir – es war im beginnenden Herbst – allerlei neue Kleider, Schuhe, Mützen und dergleichen anprobiert. Mein Vater sagte, was meine Mutter lächelnd bestätigte, dass ein Knabe in Bremen, der ganz genau meine Figur habe, alle diese schönen Hosen, Westen, Jacken, Mützen und Schuhe bekommen solle. Sein Vater habe darum gebeten, weil der Zwerg, Meister Leo, der beste und billigste unter den Schneidern sei. Als meine Tätigkeit im Dienste des Bremer Kaufmannssöhnchens beendet war, holte man mich eines Tages aus der Schule. Man sagte mir heiter, dass alle die angeblich für den Bremer angefertigten Sachen mein wären und dass ich sogleich eine Badereise mit meinem Vater antreten würde. Das versetzte mich nach meiner angeborenen Art, als ich es ganz begriffen hatte, in einen kleinen Koller von Glückseligkeit.
Die Reise fand dann auch wirklich statt. Ich durfte die Schule hinter mir lassen, was allein schon ein Glück bedeutete. Im Übrigen wusste ich schon von der Reise nach Breslau, wie durchweg heiter und angenehm ein solches Unternehmen in der Gesellschaft des Vaters sein konnte. Er selber schien bei solchen Gelegenheiten ein anderer Mensch geworden zu sein. Wir fuhren bis nach der altertümlich-reizvollen Bergstadt Hirschberg auf der Eisenbahn und von dort nach dem Bade Warmbrunn am Fuße des Riesengebirges mit einem wackligen Omnibus, der damals noch Journalière genannt wurde. Mein Vater suchte eines rheumatischen Leidens wegen die heißen Quellen von Warmbrunn auf, und mir waren sie ebenfalls verordnet, obgleich mein Flechtenleiden nur manchmal noch aufflackerte.
Drei Wochen war ich mit meinem Vater allein. Früh, nach dem gemeinsamen Bad, nahmen wir in der Villa Jungnitz, wo wir wohnten, das erste Frühstück ein, wobei ich nach Herzenslust in dick mit Butter bestrichene Hörnchen beißen durfte. Nachdem wir uns eine Weile ausgeruht, begannen wir unsere tägliche Wanderung. Ich bewies dabei Zähigkeit und Ausdauer, denn ich hatte mich ja dafür in den wilden Spielen mit meinen Straßenjungen hinreichend tauglich gemacht. Einige Mal aber wurde doch das Ziel allzu weit gesteckt, sodass meine Kräfte, wenn nicht versagten, so doch Schonung verlangten.
Wir machten Wege nach Stonsdorf, nach Buchwald, Erdmannsdorf, ja Schmiedeberg hin und zurück. Ebenfalls hin und zurück auf die Bibersteine. Selten nahmen wir in Warmbrunn selbst unser Mittagsmahl, sondern in nahen und fernen Dörfern. So einmal in einem Gasthof Kynwasser am Fuße der Berge, wo ich das erste schwimmende Ruderboot auf einem Teiche mit höchstem Staunen beobachten konnte.
Sicherlich hat mein Vater insgeheim bei diesen Wanderungen in seinen Gesprächen, Fragen, Erörterungen und Hinweisen meine Weiterbildung im Auge gehabt, aber nie in der Weise, dass ich es merken und irgendein Gedanke an Schulunterricht mich verstimmen konnte: seiner wurde nicht einmal Erwähnung getan. So war mein Vater auch weit entfernt davon, mich durch Rechenexempel und diese und jene heimliche Frage zu ängstigen, welche meist nur die Unwissenheit des Kindes an den Pranger stellt.
Ein Bedürfnis nach irgendeiner anderen Gesellschaft als der meinen hatte mein Vater nicht, ein Beweis, wie sehr ihn eine Sommersaison in Salzbrunn mit ihrer Verpflichtung, sich tausendfach im Umgang mit Menschen und wieder Menschen abzumüden, damit übersättigt hatte.
Anna Jungnitz, die Tochter unsrer Wirte freilich, ein schönes, achtzehnjähriges Bürgermädchen, das seiner Hochzeit entgegensah, bildete eine erfreuliche Ausnahme. Ich fühlte, mein Vater huldigte ihr, und ich selber genoss das Glück ihrer Neigung, die sie mir, als einem Kinde, durch allerlei Zärtlichkeiten erweisen durfte.
Viel würde ich darum geben, wenn ich des Vaters Gespräche mit mir noch im Gedächtnis hätte. Mit Bestimmtheit kann ich nur sagen, was alles darin nicht vorgekommen ist. Nichts zum Beispiel, was einem Aushorchen irgendwelcher Art ähnlich gewesen wäre, wie etwa Fragen über meine Erlebnisse mit dem Großvater und den Tanten im Dachrödenshof oder nach meinem Verhältnis zu den Geschwistern oder nach dem, was ich in der Schule oder im Kometen erlebt hatte. Er hatte es allerdings auch damals vermieden, von seinem Vater mir zu erzählen, ebenso auch von seinem Großvater, der hier in Herischdorf-Warmbrunn ein Weber und Dorfmusikant gewesen war. Er selbst ist in Warmbrunn zur Schule gegangen. Ein Schulhaus, das ihn als Knaben sah, ist heut noch vorhanden. Kurz, ich lebte damals, trotzdem ich mit Vater allein war, eine wunschlos geborgene Zeit, am frühen Morgen heiter von ihm begrüßt und abends – er ging kaum später als ich zu Bett – unter seiner väterlich warmen Hand entschlummernd.
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Die schöne Episode ging in ein wundervolles, aber ganz andersartiges, lautes Finale aus. Es wurde wiederum auf Grund der Liebhaberei meines Vaters durch eine Überraschung eingeleitet. Für mich eine Überrumpelung, und zwar eine, wie ich sie ähnlich wirkungsvoll in meinem Dasein nicht wieder erlebt habe.
Die neuen, mächtigen Eindrücke aus dieser landschaftlich die Salzbrunner Gegend weit überbietenden Natur, verbunden bei immer köstlichem Wetter mit einem stillen, mich liebevoll umhegenden heiteren Sein, hatten mich Salzbrunn beinahe vergessen lassen. Wäre es damals wirklich versunken, es hätte nicht können versunkener sein. Ich weiß nicht, wann ich die Mutter, meine Geschwister, mein Wildlingsleben, den Gasthof zur Preußischen Krone und was noch sonst – und ob ich das alles überhaupt je vermisst hätte. In einem Sinne war es versunken, in einem anderen ferngerückt; denn Eisenbahnfahrt über eine lange Kette von Stationen,