Fremde und Fremdsein in der Antike. Holger SonnabendЧитать онлайн книгу.
verspricht Hilfe, wenn Andromeda ihm ihrerseits verspricht, mit ihm zu ziehen – spätere Heirat nicht ausgeschlossen. Andromeda stimmt zu, der Held besiegt das Ungeheuer. Gestört wird das Glück durch Andromedas Onkel, der seinerseits Begehrlichkeiten in Richtung seiner Nichte entwickelt. Doch Perseus verwandelt den lästigen Rivalen mithilfe des Hauptes der Medusa in Stein. Danach lebten sie in Glück und Frieden mit vielen Kindern. Als sie starben, wurden Andromeda und Perseus zu den Sternen versetzt, zusammen mit ihren Eltern.
Auch dieser Mythos spielt an einem Ende der Welt. Medea kommt aus dem Norden, Andromeda aus dem Süden. Medea ist für die Griechen eine Fremde, Andromeda nicht. Der Mythos thematisiert ihr Fremdsein jedenfalls nicht. Sie hat auch keine dunkle Hautfarbe. Vasenbilder aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. zeigen sie zwar in nichtgriechischer, »barbarischer« Tracht, aber im Gegensatz zu ihren dunkelhäutigen Begleitern ist sie eine Weiße. Der Mythos hat sie griechisch eingemeindet durch die enge Anbindung an den großen Helden Perseus. Ihre Heimat Äthiopien ist nur eine geografische Chiffre, markiert aber keinen kulturellen oder zivilisatorischen Unterschied.
Europa – Die Fremde aus dem Orient
Europa ist nach einer Frau aus dem Libanon benannt, also aus griechischer und europäischer Sicht nach einer Fremden. Natürlich nicht nach irgendeiner Fremden, königlichen Geblüts musste sie schon sein. Europa stammte aus einer Hochburg der Phönizier, die in der ersten Hälfte des 1. Jahrtausends den Handel im Mittelmeerraum beherrschten und sogar bis nach Spanien kamen. Europa war die Tochter des Königs Agenor, der die reiche Stadt Sidon regierte (andere Quellen sprechen von Tyros). Auf einem seiner zahlreichen amourösen Abenteuer kam der oberste griechische Gott Zeus an die Küste Phöniziens, erblickte am Strand die schöne Europa im Kreise ihrer Gespielinnen und fragte sich, wie er es anstellen könne, sie für sich zu gewinnen. Er verwandelte sich schließlich in einen Stier, lud die Königstochter ein, auf seinem Rücken Platz zu nehmen und rauschte mit ihr über das Meer bis zur Insel Kreta. Nachdem Zeus wieder seine eigentliche Gestalt angenommen hatte, kamen sich der Gott und Europa so nahe, dass am Ende drei Söhne geboren wurden, deren ältester den Namen Minos erhielt. Dieser wurde König auf Kreta und residierte im Palast von Knossos.
Jupiter entführt in Gestalt eines Stiers die Königstochter Europa, Wandmalerei aus Pompeji, Archäologisches Nationalmuseum Neapel
Ein bemerkenswerter Mythos: Er dokumentiert, dass die Griechen wussten, woher ihre Kultur kam – aus dem Vorderen Orient, der dem Westen damals in wirtschaftlicher, technologischer und wissenschaftlicher Hinsicht weit voraus war. Ohne die Impulse aus dem Osten hätten sich die Griechen nicht so entwickelt, wie sie es getan haben. Bemerkenswert ist einerseits, dass sie sich, wie der Europa-Mythos zeigt, dessen durchaus bewusst waren, und dass sie andererseits diese Impulse gerne aufnahmen und etwas daraus gemacht haben.
Dieser Vorgang des Kulturtransfers aus dem Orient spiegelt sich auch in einem Anschluss-Mythos wider. Als Europa verschwunden war, machte sich ihre Familie Sorgen. So wurde ihr Bruder Kadmos beauftragt, nach der Schwester zu suchen. Er wandte sich, wie auch die Griechen es zu tun pflegten, an das Orakel von Delphi, das dazu riet, die Nachforschungen nach Europa aufzugeben und stattdessen in Böotien die Stadt Theben zu gründen. So ging der Phönizier Kadmos in die Annalen ein als Gründer der später bedeutenden griechischen Stadt Theben. Und die Thebaner waren stolz auf den fremden Gründer und hielten ihn immer in Ehren.
6. Leben mit Fremden – Leben als Fremde
»Es kommt wegen der Größe der Stadt aus aller Welt alles zu uns herein.« Perikles bei Thukydides 2,38
»Aus ganz Hellas wandten sich die Verdrängten und Flüchtlinge, immer die Mächtigsten, nach Athen als an einen sicheren Ort, wurden dort Bürger und machten so schon seit ältester Zeit die Stadt noch größer und volkreicher …«
Thukydides 1,2
Für die Griechen war nicht jeder Fremde gleich fremd. Sie nahmen eine deutliche Unterscheidung zwischen griechischen Fremden und nichtgriechischen Fremden vor. Wer kein Grieche war, war ein Barbar. Wer Grieche war, aber einem anderen Stadtstaat angehörte, war kein Barbar, aber doch ein Fremder. Zwar schufen die Griechen durch die Faktoren Abstammung, Sprache, Religion und Lebensformen eine kulturelle Identität, mit der sie sich von Persern, Libyern, Ägyptern oder anderen Völkern – den »Barbaren« eben – abgrenzten. Jedoch bildeten sie in der Antike zu keinem Zeitpunkt eine rechtliche oder gar staatliche Einheit. Die Griechen waren sich selbst ziemlich fremd, sie waren auch in Griechenland fast überall Fremde. Das lag an den politischen Strukturen der klassischen Zeit. Griechenland bestand aus etwa 700, meist sehr kleinen Stadtstaaten, von den Griechen »Poleis« genannt. Jede Polis war autonom und frei, mit eigenen Gesetzen, eigenem Bürgerrecht, eigenen politischen Funktionären, eigenem Kalender, eigener Währung. Sie definierte sich als Personenverband und nicht über das Territorium, in dem die Menschen lebten. So gab es die Athener, die Spartaner, die Korinther, die Thebaner. Schneller als ein antiker Grieche konnte man kaum zum Fremden werden: Er musste nur seine Stadt verlassen, über einen Berg ins nächste Tal gehen, die Grenzen der Nachbarstadt überschreiten – und schon war er ein Fremder.
Kam man nur zu Besuch oder um geschäftliche Angelegenheiten zu regeln, kehrte man anschließend in die eigene Stadt zurück und war kein Fremder mehr. Anders aber verhielt es sich mit jenen Menschen, die für länger oder sogar auf Dauer oder sogar für immer in einer fremden Stadt lebten. Am besten sind in dieser Hinsicht die Verhältnisse in der Polis Athen bekannt. In klassischer Zeit entwickelte sich die Stadt in Attika zu einem der wichtigsten urbanen Zentren in Griechenland. Hierher strömten viele Fremde, Nichtgriechen wie auch Griechen. Sie wurden angelockt von den wirtschaftlichen Möglichkeiten, welche die pulsierende Metropole bot, wie auch von deren kulturellem Glanz.
Wurden sie von der Bevölkerung mit offenen Armen empfangen? Die Politiker jedenfalls sendeten freundliche Signale aus. Allen voran der berühmte Solon. Seine Glanzzeit hatte er vor 2600 Jahren, zu Beginn des 6. Jahrhunderts v. Chr. Er war ein wahres Multitalent: Politischer Reformer, Wegbereiter der athenischen Demokratie, Gesetzgeber, Lyriker, einer der Sieben Weisen der Antike. Mehr passte nicht auf die historische Visitenkarte. Das Ziel, das letztlich hinter all seinen Aktivitäten und all seinem Eifer stand, war Stabilität der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Athen. Zuvor hatte es eine Serie von Bürgerkriegen und Konflikten gegeben, ein tiefer Spalt war durch die Gesellschaft gegangen. Ein ganzes Paket von Gesetzen und Maßnahmen sollte dazu dienen, die bedrohte Ordnung wiederherzustellen und die Menschen dafür zu gewinnen, sich für das Wohlergehen und das Funktionieren des Staates einzusetzen.
In diesen Rahmen gehört auch ein bemerkenswertes Gesetz über den Zuzug von Fremden und die Verleihung des Athener Bürgerrechts an Fremde, eine Art antiker Staatsbürgerschaft (Plutarch, Solon 24,4). Unter zwei Voraussetzungen sollten Fremde einen Anspruch haben, in die Bürgergemeinschaft der Athener aufgenommen zu werden: Wenn sie für immer aus ihrer Heimat verbannt worden waren oder wenn sie bereit waren, mit ihrer ganzen Familie nach Athen überzusiedeln, um dort ein Handwerk oder Gewerbe zu betreiben. Willkommen waren also, wie der zweite Punkt zeigt, Migranten, die in der Lage waren, das wirtschaftliche Leben in Athen weiter anzukurbeln. Warum aber zeigte sich Athen offen für Menschen, die man aus ihrer Heimat vertrieben hatte? Vertreibungen waren in dieser Zeit in der Regel das Ergebnis von politischen Unruhen und Bürgerkriegen. Wer auf diese Weise nach Athen kam, war ein Flüchtling – weil er die Heimat entweder freiwillig oder gezwungenermaßen verlassen hatte. Wenn Solon Flüchtlingen und Vertriebenen den Weg nach Athen ebnete, so stand dahinter nicht die Hoffnung, für die Verleihung eines Menschenrechtspreises infrage zu kommen. Vielmehr stand im Vordergrund das ganz rationale und pragmatische Kalkül, mit den politischen Flüchtlingen Menschen Schutz und Sicherheit zu gewähren, die in der Konsequenz alles darangeben würden, sich in ihrer neuen Heimat, wenn auch nicht in führender Position, politisch und gesellschaftlich zu engagieren.
Humanitäre Gründe spielten bei Solon also keine Rolle, maßgeblich war der Wunsch, von den Fremden zu profitieren