Fremde und Fremdsein in der Antike. Holger SonnabendЧитать онлайн книгу.
um antike Fremde kümmerten. Meistens bis immer standen dahinter subjektive Interessen. Unter Solon ging die Rechnung auf, wie die weitere Entwicklung zeigt. Die eingebürgerten Fremden bildeten zusammen mit der einheimischen Bevölkerung das wirtschaftliche Rückgrat des demokratischen Staates Athen. Ihre Stellung war deutlich besser als die der rechtlosen Sklaven, bei denen es sich ebenfalls meistens um Fremde handelte, deren Zuzug nun allerdings alles andere als freiwillig war. Es handelte sich bei ihnen um Kriegsgefangene, die vor allem in der Landwirtschaft und im Bergbau eingesetzt wurden.
Doch war die Einbürgerung von Fremden nicht der Normalfall. Überhaupt wurde die Verleihung des Bürgerrechts an Fremde in der Zeit nach Solon restriktiver gehandhabt. Im Normalfall wurde ihnen die Eintrittskarte in die Bürgergemeinschaft der Athener vorenthalten. Sie bekamen in Athen den Status von Metoikoi, wörtlich »Mitwohnende«. Andere Städte gingen ähnlich vor, fanden nur andere Begriffe für die Fremden, die dauerhaft bei ihnen lebten. Ein Metoikos war, anders als die Sklaven, persönlich frei. Anders als die Bürger hatte er, wie seine ganze Familie, keinerlei politische Rechte. Vom politischen Leben, das in der Demokratie der Athener besonders intensiv war, blieben sie vollständig ausgegrenzt. Weder durften sie wählen noch sich an den Abstimmungen über Gesetze beteiligen.
Die Akropolis von Athen, 2008
Für die Zuordnung in die Gruppe der Metoikoi war ein genaues bürokratisches Prozedere vorgeschrieben. Bis zu 30 Tage durfte sich ein Fremder in der Stadt aufhalten, ohne sich bei den Behörden melden zu müssen. Er galt für diese Zeit als Xenos, was sowohl »Fremder« als auch »Gast« bedeutete. Nach 30 Tagen hatte er sich in die Liste der Metoikoi einzutragen. Die Aufnahme, die regelmäßig gewährt wurde, da es keine Zugangsbeschränkung gab, war gleichbedeutend mit der dauerhaften Aufenthaltsberechtigung. So konnten die neuen Athener, die keine wirklichen Athener waren, nun ihren Geschäften nachgehen und sich ein neues Leben aufbauen, sahen sich aber zugleich einigen Restriktionen ausgesetzt. Nicht allein, dass sie politisch keinerlei Rechte hatten. Sie mussten auch eine besondere Kopfsteuer, Metoikion genannt, zahlen. Sie war nicht sehr hoch und diente vor allem dazu, die Ausgrenzung der Fremden deutlich zu machen. Ein Bürger hatte keine regelmäßigen Steuern zu zahlen, sondern wurde von Zeit zu Zeit, bei Bedarf, zur Zahlung von Sonderabgaben verpflichtet. Vor Gericht durften Fremde nicht selbstständig auftreten, sondern hatten sich einen Interessenvertreter zu wählen. Der gravierendste Unterschied zu den Bürgern bestand darin, dass die Fremden keinen Grundbesitz erwerben durften. Diese Bestimmung folgte der Logik, warum man Fremde prinzipiell mit offenen Armen empfing: Sie sollten sich um Handel, Gewerbe und Handwerk kümmern und auf diese Weise die athenische Wirtschaft ankurbeln.
Weniger Rechte, dafür aber gleiche Pflichten – unter diese Kategorie fällt die Praxis, Fremde zum Militärdienst heranzuziehen. In Athen gab es, wie in den anderen griechischen Stadtstaaten, keine Berufsarmee und kein stehendes Heer. Wenn Krieg ausbrach – in der klassischen Zeit alles andere als eine Seltenheit –, zogen die Bürger ins Feld, an ihrer Seite Metoikoi, die, wenn sie sich militärisch bewährten, zur Belohnung das Bürgerrecht erhalten konnten. Nach dem verlustreichen Peloponnesischen Krieg, den die griechischen Supermächte Athen und Sparta 27 Jahre lang führten, von 431 bis 404 v. Chr., kamen mehr und mehr Söldner zum Einsatz, die in der Fremde rekrutiert wurden. Militärisch waren sie ein Gewinn, doch litten sie unter einem notorisch schlechten Ruf, den sie sich auch deswegen erwarben, weil sie, befreit von der Disziplin ihrer Herkunfts-Gesellschaften, sich in der Fremde in einer rechts- und moralfreien Zone wähnten und häufig auch genauso verhielten.
Bunte Truppe
Der Historiker Thukydides über das militärische Aufgebot, das die Athener 415 v. Chr. nach Sizilien schickten (6,43):
»Und nun war es so weit, dass die Athener von Kerkyra (Korfu) in See stachen und hinüber fuhren nach Sizilien. Trieren waren es im Ganzen 134 sowie zwei Fünfzigruderer aus Rhodos. Davon kamen 100 aus Athen – 60 Schnellfahrer, die anderen Truppenschiffe –, die übrige Flotte aus Chios und von den anderen Verbündeten; Gepanzerte insgesamt 5100, davon Athener 1500 nach der Liste und 700 von den Ärmeren als Schiffsbesatzung. Die anderen waren mit aufgebotene Hilfsvölker, teils von den Untertanen, aber auch 500 aus Argos und 250 aus Mantineia und Söldner. Schützen im Ganzen 480, wovon 80 aus Kreta waren, 700 Schleuderer aus Rhodos und Plänkler aus Megara, von den Verbannten 120 und ein Lastschiff für Pferde mit 30 Reitern.«
Die Athener nahmen Fremde aus wirtschaftlichen Gründen gerne auf, schlossen sie aber rigoros aus ihrer Bürgergemeinde aus. Für den Umstand, dass griechische Stadtstaaten wie Athen an einer hohen Bevölkerungszahl, nicht aber an einer hohen Bürgerzahl interessiert waren, waren strukturelle Gründe verantwortlich. In Theorie und Praxis galt die Regel: Eine Polis darf nicht zu groß sein. Die Polis lebte von der politischen Partizipation der Bürger. Das erforderte eine Limitierung der politisch Berechtigten, denn Politik funktionierte nach Meinung der Griechen nur im intensiven Austausch und in kommunikativer Atmosphäre. Im Idealfall sollten sich alle persönlich kennen. Zu viele Fremde würden das System zerstören. Der Universalgelehrte Aristoteles, auf dessen imposanter Visitenkarte auch der Eintrag »Staatstheoretiker« steht, sagte, zehn Menschen seien für einen Staat zu wenig, hunderttausend zu viel (Nikomachische Ethik 1170 b31). »Wer könnte«, so fragte er rhetorisch, »Stratege einer übergroßen Masse oder wer ein Herold sein, wenn er nicht eine Stimme wie Stentor hätte?« (Politeia 1326 b5) – also wie jene Figur des griechischen Mythos, die im Rahmen des Trojanischen Krieges mit gewaltigen phonetischen Fähigkeiten auftritt.
Die meisten griechischen Stadtstaaten erfüllten das Anforderungsprofil des klugen Wissenschaftlers. Nur die Kultur- und Wirtschaftsmetropole Athen fiel aus der Rolle. In ihrer Glanzzeit im 5. Jahrhundert v. Chr. lebten hier geschätzt etwa 250 000 Menschen – nicht alle in der Stadt selbst, sondern auch in dem zugehörigen agrarisch geprägten Umland von Attika. Dies war jedenfalls der Zustand, nachdem Athen durch den Sieg gegen die Perser zur wichtigsten Stadt in Griechenland aufgestiegen war. Nach dem verheerenden Krieg gegen Sparta zwischen 431 und 404 v. Chr. (der »Peloponnesische Krieg«) sank die Einwohnerzahl aufgrund hoher Verluste signifikant. Von den 250 000 Bewohnern der Glanzzeit besaßen ca. 30 000 – knapp über 10 % – das Bürgerrecht. Andere Schätzungen gehen – zu hoch – von bis zu 50 000 Bürgern aus. Dabei handelte es sich um die politisch vollberechtigten Männer über 18 Jahren. Frauen und Kinder blieben also ausgeschlossen, wie auch die Sklaven und die Fremden – auch wenn diese, wie die Metoikoi, dauerhaft ortsansässig waren. Deren Zahl dürfte zwischen 25 000 und 35 000 gelegen haben. Das heißt: Gemessen an der Gesamtbevölkerung von 250 000 machten die Fremden einen Anteil von mindestens 10 % aus. Es gab in Athen im 5. Jahrhundert v. Chr. daher genauso viele Fremde wie Bürger. Im 4. Jahrhundert v. Chr. waren die Verhältnisse nicht viel anders. Um 340 v. Chr. wurde eine Volkszählung durchgeführt. Dabei kam heraus (Athenaios 272c), dass damals in Athen 21 000 einheimische Vollbürger lebten, während die Zahl der (männlichen) Metoikoi bei 10 000 lag. Ein Drittel aller athenischen Haushalte waren »fremde« Haushalte.
Metoikoi und ihre Herkunftsorte
Die Fremden, die dauerhaft in Athen lebten, kamen aus 380 Städten und Orten zwischen Sizilien und Kleinasien. Die größte Gemeinde stellten Zuwanderer aus der Handelsmetropole Milet im Westen der heutigen Türkei. Auf Platz zwei lagen Griechen aus der Stadt Herakleia am Schwarzen Meer. Nach Ausweis der Grabinschriften kamen viele auch aus Ägypten, Thrakien und Zypern.
Der Anspruch auf überschaubare Verhältnisse war ein Grund für die fehlende Bereitschaft zur Integration von Fremden in die politische Gemeinschaft, die Mentalität des Polisbürgers ein weiterer. Das Bürgerrecht galt als exklusives Privileg, auf das man stolz war und das man nicht gerne Fremden anbot. Die Polis verstand sich als ein geschlossener Personenverband. Es galt das Prinzip der Abstammung. In der Regel musste ein Elternteil seine Herkunft aus der jeweiligen Stadt nachweisen, egal, ob Vater oder Mutter. Die Athener, die sich gerne ihrer Weltoffenheit rühmten, waren in dieser Hinsicht noch restriktiver. 451/50 v. Chr. wurde auf Betreiben des Perikles ein Gesetz beschlossen, wonach das Athener