Reise um den Mond. Jules VerneЧитать онлайн книгу.
das hellste Mondlicht ins Innere des Projektils. Sparsam wie er war, löschte Nicholl das Gaslicht, denn es war unnötig und außerdem behinderte es bei der Betrachtung des Weltraums. Das Mondlicht glänzte in unvergleichlicher Reinheit. Seine Strahlen, die nicht mehr von der Dunstatmosphäre der Erde verschleiert wurden, drangen hell durch das Fenster und erfüllten das Innere des Projektils vollständig mit silbernem Schein. Sein Glanz, obwohl er durch den schwarzen Vorhang des Firmaments verstärkt wirkte, doch im leeren Weltraum nicht fähig war, sich auszubreiten, verdunkelte nicht die benachbarten Sterne. So gewährte der Himmel einen ganz ungewöhnlichen Anblick, wie ihn das menschliche Auge nicht vermuten ließ.
Das Interesse der mutigen Reisenden an der Betrachtung des Nachtgestirns, dem vordringlichen Zweck ihrer Reise, ist begreiflich. Der Erdtrabant kam auf seiner Bahn dem Zenit immer näher, dem mathematischen Punkt, welchen er etwa 96 Stunden später erreichen sollte. Seine Gebirge und Ebenen, das ganze Bild seiner Oberfläche stellte sich ihren Augen nicht klarer dar, als wenn sie es von irgend einem Punkt der Erde aus betrachtet hätten. Aber sein Licht entwickelte sich in dem leeren Raum mit unvergleichlicher Stärke. Die Scheibe glänzte wie ein Spiegel aus Patina. An die Erde, die unter ihren Füßen entschwand, hatten sie schon fast keine Erinnerung mehr. Kapitän Nicholl lenkte zuerst wieder die Aufmerksamkeit auf den verschwundenen Erdball.
»Ja!«, sprach Michel Ardan. »Lasst uns nicht undankbar gegen ihn sein. Weil wir unsere Heimat verlassen haben, schulden wir ihm unser letztes Augenmerk. Ich will die Erde noch einmal sehen, bevor sie meinen Blicken gänzlich entschwindet!«
Um dem Wunsch seines Gefährten zu entsprechen, machte sich Barbicane daran, das Fenster im Boden des Projektils, welches die Betrachtung der Erde unmittelbar gestattete, frei zu machen. Es kostete einige Mühe, die Scheibe, die durch die Kraft des Abschusses bis auf den Boden gedrückt worden war, herauszunehmen. Die Stücke derselben wurden sorgfältig an der Wand aufgestellt, um nötigenfalls benutzt werden zu können. Hierauf zeigte sich eine kreisrunde, fünfzig Zentimeter breite Öffnung, welche in dem Boden des Geschosses ausgeschnitten war. Dieselbe war mit einem 50 Zentimeter dicken, mit einem kupfernen Beschlag versehenen Glas geschlossen. Darunter war eine Aluminiumplatte angebracht, die durch Bolzen befestigt war. Die Schraubenmutter wurde gelöst, die Bolzen freigemacht, die Platte senkte sich, und so war die Verbindung mit der Außenwelt für den Blick hergestellt.
Michel Ardan kniete auf das Fenster nieder; es war düster wie im Schatten.
»Nun!«, rief er. »Und wo ist die Erde?«
»Die Erde?«, fragte Barbicane. »Da ist sie doch.«
»Was?«, fragte Ardan. »Dieser schmale Streifen, die silberne Sichel?«
»Allerdings, Michel. In vier Tagen, wenn es Vollmond ist, eben wenn wir dort anlangen, wird die Erde im Neumond stehen. Sie wird uns nur noch in Gestalt einer dünnen Sichel, die bald verschwinden wird, sichtbar sein. Und dann wird sie uns einige Tage lang in undurchdringlichem Dunkel erscheinen.«
»Dies soll also die Erde sein!«, wiederholte Michel Ardan, indem er den schmalen Streifen seines Herkunftsplaneten mit aufgesperrten Augen betrachtete.
Die vom Präsidenten Barbicane abgegebene Erklärung war richtig. Im Verhältnis zum Projektil trat die Erde in ihre letzte Phase ein. Sie befand sich in ihrem Achtel und beschrieb auf dem dunklen Hintergrund des Himmels eine fein gezogene Sichel. Ihr Licht, welches durch die dichte Schicht atmosphärischer Luft einen bläulichen Schein erhielt, war geringer als das der Mondsichel. Die Sichel der Erde wies bedeutende Dimensionen auf; man hätte sie einen enormen, am Himmel gespannten Bogen nennen können. Einige hell erleuchtete Punkte, besonders auf der konkaven Seite, bezeichneten hohe Gebirge, aber sie verschwanden zuweilen unter dichten Flecken, wie man sie auf der Oberfläche des Mondes nicht erkennen kann. Es waren Wolkenringe, die sich konzentrisch um die Erdkugel herum bildeten.
Infolge einer Naturerscheinung, gleich der, wie sie auch beim Mond zu beobachten ist, wenn er sich in seinen Achteln befindet, war man jedoch imstande, die vollständige Umfangslinie der Erdkugel wahrzunehmen. Durch die Wirkung des aschfarbenen Lichtes, welches etwas weniger als das des Mondes scheint, kam die ganze Scheibe ziemlich deutlich zum Vorschein. Der Grund für die geringere Strahlungsintensität ist leicht nachvollziehbar. Der Widerschein des Mondes rührt von den Sonnenstrahlen her, welche die Erde auf ihren Trabanten zurückwirft; in diesem Falle handelt es sich jedoch umgekehrt um die vom Mond auf die Erde zurückgeworfenen Sonnenstrahlen. In Entsprechung der verschiedenen Größen der beiden Himmelskörper strahlt das Licht von der Erde etwa 13 Mal stärker als das vom Mond. Hieraus folgt, dass sich durch den Schein des aschfarbenen Lichtes der dunklere Teil der Erdscheibe undeutlicher abzeichnet, als dies bei der Mondscheibe der Fall ist, weil die Intensität des Scheines im Verhältnis zur Leuchtkraft der beiden Gestirne steht. Des Weiteren ist anzumerken, dass die krumme Linie der Erdsichel viel weiter abgezeichnet zu sein scheint als beim Mond, was lediglich auf die Wirkung der Strahlung zurückzuführen ist.
Während die Reisenden das dichte Dunkel des Raums zu durchdringen suchten, entfaltete sich vor ihren Blicken ein funkelnder Strauß von Sternschnuppen. Hunderte von Boliden, die beim Eintritt in die Atmosphäre verglühten, durchzogen das Dunkel mit Lichtstreifen und beleuchteten den aschfarbenen Teil des Mondes mit feurigem Schimmer. Die Erde befand sich damals in ihrer Sonnennähe und im Dezember ist die Erscheinung der Sternschnuppen so gut zu beobachten, dass die Astronomen deren 24.000 während einer Stunde zählten. Aber Michel Ardan, der wissenschaftliche Beurteilungen für gering erachtete, gab lieber dem Glauben Raum, dass die Erde mit ihren glänzendsten Kunstfeuern die Abfahrt ihrer drei Kinder feiere.
Kurz: Dies war alles, was sie von dem im Dunkeln verschwundenen Erdball sahen, als einem untergeordneten Stern in der Sonnenwelt, der den großen Planeten wie ein bloßer Morgen- oder Abendstern unter- oder aufgeht: ein nicht mehr zu erkennender Punkt im Raum. Die Erdkugel war nur noch eine verschwindende Sichel, auf der sie alles, was ihnen lieb und teuer war, zurückgelassen hatten.
Die drei Freunde schauten einander noch lange sprachlos, aber im Herzen einig, an, während sich das Projektil in unverändert abnehmender Geschwindigkeit entfernte. Hierauf befiel die drei Freunde ein unbedingtes Schlafbedürfnis. Sowohl aufgrund der Erschöpfung des Körpers und des Geistes, als auch aufgrund der Überreizung durch die in den letzten Stunden auf der Erde verbrachten Stunden, musste unvermeidlich eine Reaktion erfolgen.
»Nun«, sagte Michel, »da man doch schlafen muss, so wollen wir schlafen.«
Und auf ihre Polster ausgestreckt versanken die drei bald in einen tiefen Schlaf. Aber sie waren noch nicht eine Viertelstunde eingeschlummert, als sich Barbicane plötzlich aufrichtete und mit laut tönender Stimme seinen Gefährten zurief:
»Gefunden!«
»Was hast du gefunden?«, fragte Michel Ardan von seinem Lager aufspringend.
»Den Grund, weshalb wir den Knall der Kanone nicht gehört haben!«
»Und der ist... ?«, fragte Nicholl.
»Weil unser Projektil schneller als der Schall des Tones war!«
DRITTES KAPITEL Man richtet sich ein
N
ach dieser merkwürdigen, aber gewiss richtigen Erklärung versanken die drei Freunde wieder in tiefen Schlummer. Wo hätten sie auch einen stilleren Ort, eine friedlichere Umgebung finden können? Auf der Erde haben die Häuser in den Städten, die Hütten auf dem Lande alle Erschütterungen zu erdulden, welche die Oberfläche derselben treffen. Auf dem Meere hat das von den Wogen umher geschaukelte Schiff Wellenbrecher um Wellenbrecher standzuhalten. In der Luft schwankt der Ballon unablässig in den Luftschichten. Nur dieses Projektil im absolut leeren Raum gewährte seinen Bewohnern in absoluter Stille die absolute Ruhe. Daher würde auch der Schlaf der drei waghalsigen Reisenden vielleicht unendlich lange angedauert haben, wenn sie nicht gegen sieben Uhr am 2. Dezember, also acht Stunden nach ihrer Abfahrt, durch ein unerwartetes Geräusch geweckt worden wären. Ein ganz eigentümliches Bellen ließ sich vernehmen.
»Die Hunde! Das sind unsere Hunde!«, rief Michel Ardan und sprang unverzüglich auf.
»Sie haben Hunger«,