Antike. 100 Seiten. Holger SonnabendЧитать онлайн книгу.
Holger Sonnabend
Antike. 100 Seiten
Reclam
Für mehr Informationen zur 100-Seiten-Reihe:
2017 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: zero-media.net
Umschlagabbildung: FinePic®
Infografik: Infographics Group GmbH
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2018
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961216-4
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020431-3
Edle Einfalt und stille Größe …
Wir stehen voller Ehrfurcht vor den großen Kunstwerken der Antike, bewundern ihre Schönheit, ihre Harmonie, ihre Proportionen. Nehmen wir die Laokoon-Gruppe. Sie ist heute eine der Attraktionen der Vatikanischen Museen in Rom. Dem Mythos zufolge war Laokoon ein Priester in Troja – ausgerechnet zu jenem Zeitpunkt, als es unterging. Die angreifenden Griechen hatten auf Anraten des listenreichen Odysseus das Trojanische Pferd in die Stadt geschmuggelt, in dessen Bauch sich einsatzbereite Krieger befanden. Laokoon witterte die Falle, doch die Mit-Trojaner schenkten seinen Warnungen keinen Glauben. Stattdessen schickten die Götter, die auf der Seite der Griechen standen, zwei Schlangen, die den Priester und seine beiden Söhne töteten.
Das berühmte Kunstwerk, 1506 in Rom entdeckt, zeigt den Todeskampf der drei unglücklichen Trojaner. Archäologen streiten sich bis heute, ob es sich um die römische Kopie eines griechischen Originals aus dem 2. Jh. v. Chr. oder um eine römische Eigenkreation aus der Mitte des 1. Jh.s n. Chr. handelt. Doch diese Frage interessiert nur die Experten. Die Sache des Publikums, das in die Museen strömt, ist eine andere. Die Menschen kommen zum Bewundern und Staunen. Dass manche die Antike in Sachen Kunst für unübertrefflich halten, ist die späte Nachwirkung des ebenso unermüdlichen wie erfolgreichen Werbens um die Anerkennung der Vorbildhaftigkeit der antiken Kunst, wie sie von Johann Joachim Winckelmann betrieben wurde. Geboren wurde der Regisseur neuzeitlicher Antikenbegeisterung vor 300 Jahren, genauer: am 9. Dezember 1717, im beschaulichen Stendal. Knapp 51 Jahre später starb er, in Triest, als Opfer eines perfiden Raubmordes. Zwischendurch hatte er genug Zeit, um sich in Italien als Mentor der antiken, insbesondere der griechischen Kunst zu profilieren. Die Laokoon-Gruppe war für ihn Inbegriff von Perfektion und Schönheit. Für sie prägte er die klassisch gewordene Formel »Edle Einfalt und stille Größe« – ein Gütesiegel, das der Antike über die Jahrhunderte hinweg anhaftete.
Edle Einfalt und stille Größe? Die Antike als eine marmorne Welt, gewissermaßen allem Irdischen entrückt, unnahbar und fern? Einfach nur schön und harmonisch?
… und die wirkliche Welt?
Zum Glück war es nicht so. Oder nicht nur so. Die Kunst ist das eine, das Leben das andere. Keiner hat das so überzeugend formuliert wie der große Altertumswissenschaftler Theodor Mommsen. Geboren vor 200 Jahren, am 30. November 1817 in Garding, im hohen Norden Deutschlands, war er genau 100 Jahre jünger als der Antikenenthusiast Winckelmann. Maßstäbe setzte er bereits in den frühen Jahren seines reichen Forscherlebens mit der Römischen Geschichte, die zwischen 1854 und 1856 in zunächst drei Bänden erschien. 1902, ein Jahr vor seinem Tod, bekam er dafür den Literaturnobelpreis. Je nach deren Einstellung faszinierte oder irritierte er seine Leser darin mit einer ganz bewusst aktualisierenden Terminologie. Plötzlich gab es im antiken Rom Bürgermeister, Generäle, Fabrikanten, Ingenieure, Büropersonal. Er befreite die antike Geschichte sowohl von der Staubschicht, die sich über die Jahrhunderte hinweg auf sie gelegt hatte, als auch von der idealisierenden, verklärenden Sicht, wie sie Winckelmann und seine Epigonen verordnet hatten. Mommsen holte die Menschen der Antike vom Podest der Unnahbarkeit herunter in die, wie er selbst sagte, »reale Welt, wo gehasst und geliebt, gesägt und gezimmert, phantasiert und geschwindelt wird«.
Die Antike hasste, liebte, sägte, zimmerte, phantasierte und schwindelte? Gut, dass Winckelmann das nicht mehr miterleben musste. Dabei hätte er auch in seinem von ihm so geschätzten Griechenland eine Lektion darüber erhalten können, dass die Menschen der Antike tatsächlich auch hassende oder sägende Menschen gewesen waren – und dass es in der hohen Politik wie auch im ganz normalen Alltagsleben alles andere als nur heroisch zuging.
Die Akropolis von Athen – Visitenkarte und Aushängeschild einer der berühmtesten griechischen Metropolen in der Antike, Pflichtprogramm für alle Touristen, die sich nach ihrer Heimreise nicht vorwerfen lassen wollen, Wesentliches versäumt zu haben. Dort oben auf der Akropolis befinden sich herausragende Bauwerke wie der Parthenon, das Erechtheion, der Nike-Tempel, die Propyläen. Kunstfreunde geraten ins Schwärmen: Die Bauten künden in ihrer klassischen Erhabenheit von der unvergleichlichen künstlerischen Begabung der alten Griechen. Mag sein. Vor allem aber dokumentieren sie den Willen der antiken Athener, ihren Status als Nummer eins unter den Griechen zu visualisieren – und den Wunsch eines damaligen Spitzenpolitikers, sich ewigen Ruhm zu verschaffen. Um dieses Ziel zu erreichen, scheute er auch, ganz ohne edle Einfalt und stille Größe, nicht vor offenkundigem Betrug zurück.
Was macht man mit Geld, das man von anderen erhält? Und was leistet man dafür? Fragen, die, wie man weiß, für die Griechen bis heute eine gewisse Bedeutung haben. Ihr großer antiker Vorfahre Perikles hatte vor bald 2500 Jahren eine erstaunliche Antwort parat: »Das Geld gehört nicht denen, die es zahlen, sondern denen, die es bekommen.« Das hielten bereits die Zeitgenossen für eine interessante Sicht der Dinge und überhörten fast den Nachsatz: »… sofern sie für den erhaltenen Betrag die vereinbarte Gegenleistung erstatten«. Das Geld, um das es hier ging, stammte aus der Kasse des »Attischen Seebundes«. So wird ein Bündnissystem genannt, das die Athener im Jahr 478 v. Chr. ins Leben gerufen hatten. Sie versammelten in dieser Allianz mehr als 200 griechische Stadtstaaten. Das Datum 478 v. Chr. ist kein Zufall: Kurz zuvor hatten die Griechen einen Angriff der Perser unter ihrem Großkönig Xerxes zurückgeschlagen, ein Verdienst vor allem der athenischen Flotte. Von daher leiteten die Athener den Anspruch auf Vorherrschaft in Griechenland ab und setzten sich an die Spitze des Bundes, der »attisch« hieß, weil Athen in der Landschaft Attika liegt. Sinn und Zweck des Bündnisses bestanden darin, sich gegen künftige Angriffe der Perser zu wappnen (die dann gar nicht erfolgten, aber das konnte zu diesem Zeitpunkt keiner wissen). Einige der Partner stellten Schiffe zur Verfügung, die meisten aber zahlten Jahr für Jahr einen bestimmten Geldbetrag in eine gemeinsame, bald gut gefüllte Kasse, die man auf der Insel Delos deponierte. Sie sollte als Kriegskasse für den Fall einer persischen Invasion dienen.
Athen war zu dieser Zeit eine Demokratie, sogar die erste Demokratie der Weltgeschichte. Doch bereits damals zeigte es sich, dass die Menschen gerne dem immer selben Führungspersonal vertrauen. So kam es, dass sie Jahr für Jahr Perikles an die Spitze des Staates wählten. Er stammte aus einer alten Adelsfamilie, strahlte Würde aus und gab sich trotzdem gerne volksnah. Und er hatte viele gute Ideen. Eine seiner besten war das Projekt »Wiederaufbau der Akropolis«. Tatsächlich lagen die Bauten dort seit 480 v. Chr. in Schutt und Asche, nachdem die Perser unter Xerxes Athen einen ungebetenen Besuch abgestattet und alle Tempel und Gebäude auf der Akropolis zerstört hatten. 30 Jahre später blies Perikles nun also zum Wiederaufbau. Die Akropolis sollte in neuem Glanz erstrahlen und alles in den Schatten stellen, was es sonst an Bauten gab: ein Schaufenster der Macht der Athener und ihrer Demokratie.
Solch ein Prestigeprojekt erforderte viel Geld. Praktischerweise hatte Perikles ein Gespür für das Akquirieren von Finanzquellen. Es gab doch die Kasse des