Schulverweigerung als Entwicklungschance?. Johanna KinigerЧитать онлайн книгу.
Nachfolgende Tagebuchaufzeichnungen habe ich in der Zeit der Schulverweigerung geschrieben. Die Ausschnitte spiegeln offen und ehrlich meine innersten Gedanken und Gefühle zur Zeit der Schulverweigerung. Meine Tagebuchaufzeichnungen sind eine Chance für die Leser*innen das Phänomen mit den Augen eines Betroffenen zu sehen.
Donnerstag, 09.11.
Liebes Tagebuch,
guten Morgen. Ich habe heute keine Lust, Schule zu gehen. Immer dasselbe. Ich habe keinen Bock mehr, mich mit sinnlosen Dingen zu beschäftigen. Ich habe keine Lust mehr, das zu tun, was andere von mir verlangen. Ich habe keine Lust mehr, immer zu funktionieren und freundlich zu sein, obwohl es mir nicht gut geht. Ich will nicht mehr. Ich möchte ehrlich sein, zu mir selbst und zu den anderen. Ich will mein Leben wiederhaben, das mir die Schule genommen hat. Ich will Spaß und Freude haben, wieder neugierig sein dürfen, auf das Leben, auf die Zukunft. Ich sehne mich nach Glück und Lebensfreude, nach Sinn und Wertschätzung. Ich will nicht mehr. So … aus …. ich bleibe heute zu Hause. Ich schlafe aus. Verkackte Schule.
Mittwoch, 15.12.
Liebes Tagebuch,
was für eine geniale Idee von mir, nicht zur Schule zu gehen. Es geht mir blendend. Nur weiter so. Das Leben ist schön.
Montag, 5.02.
Gestern, die Fete, die war richtig cool und das Ausschlafen heute auch. Wer braucht denn schon die Schule. Ich habe jetzt viel mehr Zeit für mich und für meine Freunde, die auch schwänzen. Wir sind ein Team. Ich lerne so viel, viel mehr als in der Schule. Endlich lerne ich das Leben kennen. Spannend, was es alles so gibt. Ich tu, was ich will. Das Leben ist schön.
Mittwoch, 21.03.
Liebes Tagebuch,
in letzter Zeit habe ich es wohl übertrieben, mit dem Schule schwänzen. Ich habe viel verpasst und es wird für mich immer schwieriger, die versäumten Inhalte nachzuholen. Morgen werde ich wieder zur Schule gehen, aber nach der 3. Std. bin ich fast gezwungen, nach Hause zu gehen. Wir haben Test und ich kann nichts. Gott sei Dank haben wir eine Klassen-WhatsApp Gruppe, so weiß ich immer, wann die Tests sind und kann mir die Unterlagen ausdrucken. Natürlich helfen mir auch meine Freunde und meine große Schwester. Sie war auch einmal in einer ähnlichen Situation und versteht mich. Ich werde morgen nach der 2. Std. einfach in Ohnmacht fallen und dann nach Hause gehen. Gute Nacht, liebes Tagebuch. Großer Schmerz. Das Leben ist nicht so schön.
Freitag, 06.04.
Liebes Tagebuch,
ich habe Angst, die Kontrolle über mein Leben zu verlieren. Ich bin verwirrt. Das, was ich so sehr wollte, ist nicht perfekt. Ich will den Weg zurückfinden, aber zugleich das Neue in mir weiter entfalten. Ich brauche eine Lösung. Das Leben ist so nicht schön.
3 Schulverweigerung –„Ich bleib dann mal weg“1
3.1 BEGRIFFSDIFFUSION UND TRENNSCHÄRFENPROBLEMATIK
„An Begriffe werden Kriterien (Merkmale) geknüpft, sie
erhalten damit einen Zuschreibungscharakter. Sie sind ein
gedankliches Konstrukt. Begriffe treten hierarchisch in
Beziehung zueinander und trennen einander ab.
Die Trennschärfe ist jedoch nicht immer gegeben.“
(Beinke et al. 2008, S. 91)
In der Forschung und Fachliteratur existieren unterschiedliche Bezeichnungen für das Phänomen Schulverweigerung. Die Differenzierung ist unscharf (vgl. Weckel 2017, S. 51).
Thimm und Ricking betonen beispielsweise, dass es vor allem bei der Verwendung und Abgrenzung der Begriffe Schulverweigerung, Schulschwänzen, Schulabwesenheit, unregelmäßiger Schulbesuch, Schulverdrossenheit, Schulphobie, oder schuldistanziertes Verhalten keine konsensfähige Begriffsverwendung und sehr große Uneinigkeiten gibt.
Für Ricking umfasst der Oberbegriff Schulabsentismus alle Verhaltensweisen und -muster, bei denen die Schüler*innen zur Unterrichtszeit in alternativen Räumen aufhalten (vgl. Ricking 2014, S. 8).
Schulverweigerung ist für ihn eine Erscheinungsform des Schulabsentismus. Die Klassifikation in unterschiedliche Erscheinungsformen basiert auf den ursächlichen Faktoren (Ricking/Albers 2019, S. 11).
Rickings Definitionen können sich nicht durchsetzen können, weil die Begrifflichkeiten im allgemeinen Sprachgebrauch nach wie vor als Synonyme gebraucht werden und nicht im hierarchischen Verhältnis gesehen werden (vgl. Fahrenholz 2015, S. 10).
Abb. 1: Unterschiede zwischen schulaversiven Verhaltensweisen und Schulversäumnissen (nach Ricking 2014, S. 38)
Für Seeliger ist Schulverweigerung ebenso wie für Ricking eine Unterkategorie des Schulabsentismus. Schulverweigerung ist für sie durch eine prozesshafte Entwicklung charakterisiert. Die Autorin unterscheidet zwischen der aktiven und der passiven Schulverweigerung. Die passive Schulverweigerung steht für körperliche Anwesenheit in der Schule, aber bewusstes Verweigern von Arbeitsaufträgen, gezieltes Stören des Unterrichts oder fehlende Teilhabe. Unter aktiver Schulverweigerung versteht Seeliger hingegen das bewusste Fernbleiben (vgl. Seeliger 2016, S. 26 ff.).
Für die Unterscheidung zwischen Schulschwänzen und Schulverweigerung gilt in der Schulabsentismus-Forschung u. a. auch die quantitative Komponente. Wenn jemand öfter als fünfmal im Schuljahr der Schule unentschuldigt fernbleibt, so handelt es sich nicht mehr um Schulschwänzen, sondern um Schulverweigerung (vgl. Samjeske 2007, S. 185).
Auch Barth bemängelt die unzureichende begriffliche Klärung. Er bringt Schulverweigerung mit der Adoleszenz in Verbindung. Für ihn ist Schulverweigerung ein übliches Verhalten der Jugendzeit. Schulverweigerung kann jedoch bereits in der Grundschule beginnen und sich bis zur Pubertät steigern (vgl. Barth 2015, S. 115).
Für Dunkane und Ricking entwickelt sich Schulverweigerung als Reaktion auf subjektiv empfundene Bedrohung. In ihrer Studie (2017) wird deutlich, dass Schulverweigerung mit internen internalisierenden Angstsymptomen sowie mit sozialen oder leistungsbezogenen Problemlagen in der Schule zusammenhängt. Schulverweigerer*innen leiden häufig an Prüfungsangst, werden gemobbt oder befinden sich in Klassen mit schlechtem Klassenklima. 23 % der Schüler*innen gaben in der Studie an, häufig an Ängsten zu leiden (vgl. Dunkake/ Ricking 2017, S. 97).
In der begrifflichen Annäherung bleiben weiche Formulierungen bestehen. Im wissenschaftlichen Diskurs ist man sich mittlerweile darüber einig, dass es die typische Schulverweigerer*in nicht gibt, ebenso wenig wie ein typisches Profil für Schulverweigerer*innen. Für Seeliger wird Schulverweigerung im schulischen Alltag oft über subjektive Einschätzung sowie Interpretation der Lehrpersonen, Eltern, Pädagogen*innen definiert (vgl. Seeliger 2015, S. 28).
3.2 ANFÄNGE UND ENTWICKLUNG DER SCHULABSENTISMUSFORSCHUNG
Wenn Lehrpersonen nicht zum Unterricht erschienen, so nannte man dieses Phänomen in der Studentensprache Schulschwänzen (vgl. Müller, 1990, S. 16).
Erst zu einem späteren Zeitpunkt wurde dieser Begriff für die Abwesenheiten von Schüler*innen verwendet. Erste empirische Untersuchungen stammen aus der Verwahrlosungsforschung. Parallel dazu gab es psychologische Erklärungsansätze (vgl. Dunkake 2010, S. 30 f.).
Beide Zugänge befassten sich mit den Ursachen dieser Schulpflichtverletzung. Der Fokus lag auf der Persönlichkeitsebene.