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Der Sichelmond. Massimo LongoЧитать онлайн книгу.

Der Sichelmond - Massimo Longo


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mitnahm als die körperliche Anstrengung, brachte die restlichen Einkäufe zusammen mit ihrer Tochter Gaia in die Wohnung. Sie dachte unentwegt an Helios, während sie die Treppen hinaufstieg. Die Fassade des fünf Stockwerke hohen Gebäudes war weiß und orange, wie die der anderen Häuser in dieser Siedlung, die Gialingua hieß. Der Aufzug funktionierte nur alle zwei Tage mal, und aus unerfindlichen Gründen nie an den Tagen, an denen Giulia den Einkauf nach oben tragen musste. Zwanzig Familien lebten hier in ebenso vielen gegenüberliegenden Wohnungen.

      „Das ist das letzte Mal, dass du dir das erlaubst!“, rief sie aus der Küche, „Wir klären die Sache später, wenn dein Vater nach Hause kommt!“

      Helios hörte sie nicht einmal, er war ganz in die monotone Musik versunken, die in seine Ohren drang, ohne ihn gefühlsmäßig zu berühren. Nichts und niemand würde dieses leere und paranoide Gefühl verdrängen, das ihn umgab. Er wurde von seiner interessenlosen Welt umhüllt, wie Linus von seiner Decke. Das war nun mal Fakt, und die Welt hatte sich damit abzufinden.

      Gaia war ganz anders als er: fünfzehn Jahre alt, schwarzes kurzgeschnittenes Haar und zwei quicklebendige, neugierige Augen. Ein Vierundzwanzigstundentag reichte ihr nicht aus, um allen ihren Interessen nachzugehen.

      Auch Giulia war dynamisch. Im Gegensatz zu ihrer Tochter hatte sie blondes lockiges Haar, war leicht übergewichtig aber flott und resolut. Kurz gesagt, eine klassische 42-jährige Mama, die im Spagat zwischen Arbeit und Familie immer tausend Sachen zu erledigen hatte.

      Es war Zeit fürs Abendessen, aber aus Helios Zimmer war kein Mucks zu hören, es herrschte absolute Stille. Tatsächlich war Helios, nachdem er sich auf das Bett gestürzt und die Kopfhörer aufgesetzt hatte, regungslos liegen geblieben.

      In der Wohnungstür drehte sich ein Schlüssel. Im gleichen Moment, noch bevor die Tür aufging, ergoss sich auch schon Giulias verärgerte und seufzende Stimme über ihren Mann.

      „So kann es nicht weitergehen!“

      „Schatz, lass mich doch wenigstens reinkommen ...“

      Giulia gab ihrem Mann einen Kuss und fing sofort wieder an zu jammern.

      „Es geht wieder um Helios, nicht wahr?“, erkundigte sich der Mann mit resignierter Stimme.

      „Ja, natürlich!“, erwiderte Giulia.

      Während sie redeten, nahm Carlo den Lunch-Behälter aus seiner Tasche, um ihn in die Küche zu bringen. Dann verstaute er die Tasche mitsamt Ersatzhemd, das er mit zur Arbeit nahm im Schrank. Denn obwohl es erst Ende Mai war, machte sich die schwüle Hitze bereits bemerkbar.

      Er war ein sanftmütiger Mann, im gleichen Alter wie seine Frau, mit einer großen, schlanken Figur. Sein Haar - ehemals genauso pechrabenschwarz wie das seiner Tochter - war inzwischen fast vollständig grau geworden. Er hatte ein längliches Gesicht mit eingefallenen Wangen und auf der Adlernase saß eine runde Metallbrille.

      „Können wir nicht nach dem Essen darüber sprechen?“, fragte er liebevoll seine Frau, in der Hoffnung, sie zu beruhigen.

      „Du hast recht, Liebling“, antwortete sie, aber ohne es zu merken, fuhr sie mit dem Gejammer fort, bis das Abendessen auf dem Tisch stand.

      Zum Glück gab es Gaia, die in einem Atemzug von ihrem Tag erzählte und selbst kleine Missgeschicke mit Humor und heiterer Gelassenheit nahm.

      Sie hatte gerade den Tisch fertig gedeckt, als ihre Mutter sie aufforderte:

      „Ruf doch bitte Helios!“

      „Es ist sinnlos“, erwiderte sie, „du weißt doch, dass er sich nicht rührt, wenn Papa...“

      Giulia fiel ihr ins Wort, wendete sich aber nun an ihren Mann:

      „Er hat das Zimmer nicht verlassen, seit ich ihn von der Schule abgeholt habe, es wird immer schlimmer.“

      „Hatten wir nicht vereinbart, dass er allein nach Hause kommen soll?“

      „Ich war gerade in der Gegend, weil ich einkaufen war...“

      „Du hast immer eine Ausrede, um ihn in Schutz zu nehmen, und dann beklagst du dich!“

      Carlo sah seine Frau an und schüttelte missbilligend den Kopf. Dann stand er von der Couch auf, um den Jungen zum Essen zu rufen.

      Ohne an die Tür zu klopfen betrat er das Zimmer und fand Helios genauso vor, wie seine Mutter ihn zurückgelassen hatte. Seine Augen starrten gegen die Decke ins Leere, er trug noch immer die weißen WLAN-Ohrhörer. Nicht einmal seine Schuhe hatte er ausgezogen.

      Carlo gelang es nicht, in diesem Jungen das Kind wiederzuerkennen, mit dem er immer auf seinem Fahrrad spazieren gefahren war. Er war inzwischen dreizehn Jahre alt und fast so groß wie er. Seine wallenden blonden Kinderlocken hatte er aus Faulheit herausgeglättet, so brauchte er sie nicht zu kämmen. Seine grünen Augen waren immer noch wunderschön, aber stumpf. In den letzten Jahren hatte er auf keinerlei Anregungen mehr reagiert. Er hatte ihn schon ewig nicht mehr lachen hören und vollkommen vergessen, wie sich sein Lachen anhörte. Es tat ihm leid, nicht mehr so viel Zeit wie früher mit seinem Sohn verbringen zu können, als er noch klein war. Er bezweifelte allerdings, dass seine Aufmerksamkeiten jetzt geschätzt würden.

      Durch die Wirtschaftskrise hatte er vor einigen Jahren leider seinen Arbeitsplatz in der Nähe der Wohnung verloren. Ehrlich gesagt war es nicht so sehr die Krise als vielmehr die Profitgier gewesen, die das multinationale Unternehmen, für das er damals arbeitete, veranlasst hatte, den Standort zu verlagern - ein Verhalten, das für viele Unternehmen dieser Art typisch ist.

      Mit Mühe war es ihm gelungen, eine neue Stelle zu finden, allerdings musste er jetzt jeden Tag viele Kilometer weit mit verschiedenen öffentlichen Verkehrsmitteln fahren, um zu seinem neuen Arbeitsplatz zu kommen, sodass er weniger Zeit für seine Familie hatte. Er kam abends immer müde nach Hause, dass es ihm schwer fiel, selbst dann anwesend zu sein, wenn er da war. Nach dem Essen legte er sich auf die Couch und schlief unweigerlich ein, obwohl er sich bemühte, wach zu bleiben.

      Carlo bedeutete seinem Sohn, die Kopfhörer abzunehmen, Helios gehorchte, um sich nicht einen langen Vortrag anhören zu müssen, der seinen Kopf zu sehr anstrengen würde.

      „Komm, das Abendessen ist fertig“, forderte er ihn verärgert auf. „Deine Mutter hat mir erzählt, dass du seit vier Uhr heute Nachmittag hier herumliegst!“

      Helios stand auf und ging mit gesenktem Kopf an seinem Vater vorbei in die Küche, ohne sich die Mühe zu machen, mit ihm zu sprechen.

      Gaia saß bereits an einer Seite am Tisch, den sie gedeckt hatte. Sie tauschte mit dem Smartphone Nachrichten mit ihren Freundinnen aus, um die kommenden Ereignisse zu organisieren.

      Helios setzte sich seiner Schwester gegenüber und sprach während des ganzen Abendessens kein Wort mit ihr.

      Das Abendessen verlief ruhig, alle plauderten über die Geschehnisse des Tages, außer Helios – er biss ein paarmal in sein Brötchen und verschwand so schnell er konnte wieder in sein Zimmer, sehr zur Enttäuschung seiner Mutter, was sich wiederum im düsteren Gesichtsausdruck seines Vaters widerspiegelte.

      Als Giulia und Carlo allein waren und den Tisch zu Ende abräumten, sprachen sie wie gewohnt über das immer gleiche Thema der letzten Jahre: ihre Sorge über das Verhalten ihres Sohnes.

      „Was machen wir nur falsch? Ich kann es nicht verstehen! Gaia ist so dynamisch, fröhlich und lebhaft!“, sagte Giulia.

      „Ich vernachlässige ihn zu sehr!“, beschuldigte sich Carlo wie immer selbst.

      „Du bist ganz sicher nicht der einzige Vater, der wegen seiner Arbeit so viele Stunden außer Haus ist. Und ich bin doch jeden Nachmittag zu Hause“, wiederholte Giulia zum x-ten Mal, weil sie nicht wollte, dass Carlo auch die Sorge auf sich nahm, womöglich die Ursache für die Probleme ihres Sohnes zu sein.

      „Es ist keine Frage des Charakters, Giulia, Helios war nicht immer so, und das weißt du genau!“

      „Ich wünschte, es wäre so, Carlo, aber man verändert sich, wenn man größer


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