Der Sichelmond. Massimo LongoЧитать онлайн книгу.
nicht wie sonst in den letzten Jahren, in ein Ferienlager schicken können. Im Sommercamp in der Stadt würde er vollkommen phlegmatisch werden!“
„Giulia, ich bitte dich, die anderen Kinder haben Spaß im Sommercamp. Francescas und Giuseppes Kinder lieben es. Du weißt genau, dass er auch im Sommerlager völlig teilnahmslos ist! Wir müssen eine Alternative finden, etwas, das ihn zwingt, zu reagieren. Er scheint völlig leblos, erinnerst du dich, wie wir in seinem Alter waren?“
„Natürlich! Meine Mutter stand abends draußen vor der Haustür, um mich zum Abendessen zu rufen, meistens hörte ich sie nicht einmal, so beschäftigt war ich, wenn ich über die Felder rannte und mich im Gras wälzte. Wir waren frei und glücklich. Das können wir ihm in der Stadt nicht bieten, aber im Sommerlager weiß er die Gelegenheit auch nicht zu schätzen. Er hat keinen einzigen Freund, niemanden, den er nach Hause einladen könnte, um diese monotone Existenz, die er sich selbst aufgebaut hat, zu durchbrechen. Er lässt niemanden zu nahe an sich rankommen, manchmal frage ich mich, was er für uns empfindet. Er ist glitschig wie ein Fisch, wenn ich versuche, ihn zu umarmen...
„Giulia, die Kinder sind aus dem Alter raus, in dem sie mit ihrer Mutter schmusen. Aber ich bin sicher, dass er uns noch immer liebt. Wir finden nur nicht mehr den richtigen Zugang zu ihm. Wir müssen einen Weg finden. Wir müssen einen Weg finden, um ihn aufzurütteln. Ich wollte mit Ida darüber reden, sie hat zwei Jungs, vielleicht kann sie uns einen Rat geben.“
„Befürchtest du, er könnte nach Libero kommen? Meinst du, er könnte eine psychische Störung geerbt haben?“, fragte Giulia.
„Nein, Libero hatte andere Probleme, die hingen mit dem Tod seines Vaters zusammen. Aber es gibt eine gemeinsame Basis und Idas Erfahrung kann uns von Nutzen sein. Seit sie aufs Land gezogen ist, hat sie wahre Wunder an diesem Jungen vollbracht. Und das als allein erziehende Mutter! Und mit einem Bauernhof, den sie aufbauen musste.“
„Ja, rede mit ihr, ich vertraue deiner Schwester. Mir gefällt ihre Art, die Dinge zu sehen.“
„Wann gibt es Zeugnisse?“, fragte Carlo seine Frau.
„Am 19. Juni...“
„Das ist zu spät, um eine Entscheidung zu treffen! Versuch doch mit der Italienischlehrerin zu sprechen. Wir müssen entscheiden, wo wir die Kinder hinschicken wollen und ob Sommerlager oder ein Sommercamp in der Stadt, die warten mit den Anmeldungen nicht bis zu den Schulzeugnissen“, meinte Carlo.
„Ja, du hast recht. Besser, wir wissen, woran wir sind, obwohl Helios in der Schule ja so schlecht auch wieder nicht ist. Es ist nur, dass er alles immer ohne jede Begeisterung tut. Heute sind übrigens die neuen Nachbarn aus dem zweiten Stock eingezogen! Sie scheinen ganz nett zu sein. Frau Giovanna hat mir erzählt, dass sie aus Potenza hergezogen sind. Das ist ziemlich weit weg! Die erste Zeit wird bestimmt nicht einfach für sie sein. Sie haben einen Sohn in Helios Alter, ich könnte ihn doch an einem der kommenden Nachmittage mal zu uns einladen...“
Giulia bemerkte, dass Carlo, der auf der Couch lag, bereits eingeschlafen war.
„Komm, lass uns ins Bett gehen, Liebling“, weckte sie ihn sanft auf.
Kapitel Zwei
Er setzte ihm mit einem eisigen Geflüster nach
Helios stand wie angewurzelt auf dem großen Bürgersteig vor der Schule. Alle wirbelten um ihn herum, sprangen zu ihren Eltern in die Autos oder jagten sich gegenseitig hinterher, während sie in Gruppen nach Hause liefen. Er hatte gehofft, dass seine Mutter nach dem Gespräch mit seiner Italienischlehrerin auf ihn warten würde. Verwirrt schaute er nach rechts und links, auf der Suche nach dem rettenden Auto seiner Mutter.
In Windeseile war der Schulhof leergefegt und Helios musste sich damit abfinden, zu Fuß nach Hause zu gehen. Er hasste es, sich zu bewegen und noch mehr hasste er es, durch diese verdammte Lindenallee zu laufen, die zwischen der Schule und seinem Zuhause lag.
Er wartete noch ein paar Minuten, dann machte er sich langsam auf den Heimweg. Er befahl seinem Fuß, sich zu heben, was manchen Menschen einfach erscheinen mag, aber für Helios, der seit Jahren nur wenig mit seinen Gliedmaßen kommunizierte, war es ein gewaltiger Akt.
Als erstes bog er nach links in die Allee ab, kaum war er um die Ecke gebogen, sah er auch schon die so verhasste Strecke vor sich. Auf beiden Seiten der Allee standen frisch blühende Linden, die wohl jeder Mensch als wunderschön empfunden hätte, und deren Duft vom Wind durch die ganze Nachbarschaft getragen wurde. Schritt für Schritt lief er unter großer Anstrengung die Baumreihe entlang, wobei ihn das unangenehme Gefühl nicht losließ, verfolgt zu werden.
Er drehte sich schnell um und meinte, ein pechschwarzes Tier zu sehen, das hinter einen Baum zurückwich.
„Das kann nicht sein“, sagte er sich immer wieder, „dieser komische bösartige Hund sah aus, als hätte er einen Zwicker auf der Nase!“
Ängstlich lief er weiter und hatte das Gefühl, kleine Schatten hinter den Bäumen zu sehen. Und als ob das noch nicht genug wäre, verfolgte ihn der Wind, der durch die Äste blies mit einem eisigen Geflüster, das in seine Ohren eindrang und in seinem Kopf stecken blieb.
Er konnte nicht verstehen, was diese Laute bedeuteten. Eingenommen von diesem unbehaglichen Gefühl, befahl er seinem Körper, zu rennen. Er schwitzte, je mehr er rannte, desto mehr schienen die Laute ihn zu verfolgen und desto mehr näherten sich die Schatten.
Er lief so schnell er konnte, hörte eine schreckliche Stimme, die ihn aufforderte, stehen zu bleiben. Wieder drehte er sich ruckartig um, und wieder meinte er, etwas Schwarzes zu sehen, das sich hinter einem nahe stehenden Baum versteckte. Inzwischen war er fast an der Biegung angekommen, die ihn aus diesem Alptraum befreien würde.
Er spürte, wie ein Atemzug seinen Nacken streifte, ohne stehen zu bleiben drehte er sich um, irgendetwas traf ihn voller Wucht und warf ihn zu Boden.
Erschrocken rollte sich Helios wie ein Igel zusammen und warf die Arme schützend über den Kopf.
Im selben Augenblick hörte er, wie eine vertraute Stimme nach ihm rief:
„Helios!“ Helios! Was zum Teufel machst du da?“
Es war seine Schwester, die ihn wütend anfuhr, weil er sie umgerannt hatte. Gaia bemerkte den jämmerlichen Zustand, in dem sich Helios befand.
Ihr Tonfall wurde ruhiger:
„Wie geht's dir?“
Als Helios ihre Stimme hörte, öffnete er die Arme und hob den Kopf.
Gaia registrierte sein verstörtes Gesicht, das noch blasser als sonst und verschwitzt war. Sie dachte einen Moment darüber nach, dass ihr Bruder gerannt war, was für ihn normalerweise völlig unüblich war. Sie hatte den Eindruck, dass er vor etwas oder jemandem davon lief und half ihm auf die Beine.
„Warum bist du so gerannt?“, fragte sie ihn. „Was hat dich erschreckt?“
Gaia konnte sich nicht erinnern, wann sie ihren Bruder das letzte Mal rennen sehen hatte. Helios antwortete nicht, er wollte nur so schnell wie möglich von dieser Straße weg. Also bog er, ohne ein Wort zu sagen, um die Ecke.
Gaia lief ihm besorgt hinterher.
„Helios!“ rief sie ihm wieder zu.
„Es ist nichts!“, antwortete Helios grob. „ Es ist nichts!“
Gaias Sorge verwandelte sich in Wut über sein Verhalten:
„Nichts, sagst du? Du hast mich gerade umgerannt, und sagst nichts!?“
Helios, der weitere Diskussionen, die seinen bereits erschöpften Körper beanspruchen würden, vermeiden wollte, entschuldigte sich.
„Tut mir leid“, sagte er.
Diese oberflächlichen Ausreden verärgerten Gaia nur noch mehr. Sie ließ ihren Bruder aber trotzdem nicht in diesem besorgniserregenden Zustand zurück.
Am Sonntagmorgen hatten Carlo und Giulia endlich eine Entscheidung getroffen, sie sprachen