Der Sichelmond. Massimo LongoЧитать онлайн книгу.
ein netter Junge und auch sehr gutherzig.“
„Ja, aber...bist du sicher, dass er uns an unser Reiseziel bringen wird?“, fragte Gaia verdutzt.
„Aber natürlich!“, beruhigte sie Carlo. „Unterschätze ihn nicht, er führt zusammen mit seiner Mutter den Bauernhof. Er ist stark und klug.“
Es wurde Zeit fürs Abendessen und die Stimmung war sehr ausgelassen, mit all den farbigen Geschichten, die Libero vom Land mitgebracht hatte - natürlich für alle, außer für Helios.
„Ich kann es kaum erwarten, euch alles zu zeigen“, sagte Libero am Ende seiner Beschreibung des Bauernhofs zu seiner Cousine und seinem Cousin.
„Bist du sicher, dass du nicht ein paar Tage bleiben möchtest, bevor du wieder abreist?“, fragte Giulia.
„Ich kann Mama im Moment nicht allein lassen, es gibt so viel zu tun.“
„Du hast recht, Libero, du bist wirklich ein guter Junge", lobte Carlo ihn und klopfte im liebevoll auf die Schulter.
„Weißt du, Onkel Carlo, ich hab da noch eine Frage zum Auto, bevor ich in die Stadt kam, dachte ich, dass die Hupe an den Autos nur im Gefahrenfall gebraucht...“
„Natürlich“, antwortete Carlo, „warum fragst du?“
„Weil ich den Eindruck habe, man benutzt sie hier von allem zum Feiern, die Leute hupen ein einem fort!“
Alle, außer Helios, brachen in schallendes Gelächter aus und fragten sich insgeheim, ob Libero diese Naivität nur spielte oder ob er tatsächlich so war ...
Kapitel Drei
Als sie sein Entsetzen bemerkte, fing sie an zu lachen.
Am nächsten Morgen wurde Giulia unsanft von Libero geweckt, als er im Korridor über den Teppich stolperte. Und so kam es, dass er und seine Tante gemeinsam frühstückten, bevor alle anderen aufwachten. Als der frische Kaffeeduft Carlos Schlafzimmer durchflutete, gesellte er sich ebenfalls dazu und so erzählten er und Giulia, was mit Helios los war.
„Macht euch keine Sorgen“, beruhigte Libero sie, „diese Erfahrung weg von zu Hause wird ihm eine Hilfe sein und Mama hat auch schon einen Angriffsplan vorbereitet!“
Am Bahnhof ermahnte Giulia ihre Kinder in einem fort, sich bei ihrer Tante anständig zu benehmen.
Gaia hielt es vor Aufregung und Neugier kaum mehr aus, während man Helios wie üblich schon von weitem ansehen konnte, dass er in diese Geschichte hineingezwängt worden war. Er zog Gaias schweren Koffer hinter sich her, weil Libero ihn dazu gezwungen hatte: „Ein Fräulein trägt keine schweren Lasten!“, dieser Cousin hatte ihn schon ganz mürbe gemacht.
Libero, der eine Jeans und ein T-Shirt und dazu eine ockergelbe Mütze vom Katastrophenschutz trug, die seinem Cousin und seiner Cousine unpassend erschien, schleppte das ganze restliche Gepäck so mühelos, als ob es leere Koffer wären.
Der Zug verließ den Bahnhof pünktlich nach Fahrplan. Nur sie drei besetzten das Abteil. Libero hob die Koffer auf die Gepäckablage und schlug vor:
„Komm, Gaia, lass uns in den Restaurantwagen gehen und einen Snack besorgen, wir werden erst spät auf dem Bauernhof eintreffen und bis dahin solltet ihr bei Kräften bleiben. Helios wird in der Zwischenzeit auf die Koffer aufpassen, es wird sich niemand an unseren Sachen vergreifen. Falls doch, dann knurr ganz einfach!“ meinte er und grinste seinen Cousin dabei an. „Und wenn du nicht eingeschnappt bist, bringen wir dir auch was zu essen mit...“
Libero und Gaia verließen zusammen das Abteil, zur großen Erleichterung von Helios, der nun endlich allein sein konnte.
Er starrte aus dem Fenster in die monotone Landschaft. Sie hatten gerade das Industriegebiet hinter sich gelassen und man konnte die ersten bestellten Felder sehen. Sein Blick schweifte über Felder, Felder und noch mehr Felder und dann über Hügel, Hügel und noch mehr Hügel und Felder.
Plötzlich sah er das Spiegelbild eines Mannes im Fenster, er saß auf dem Sitz in der benachbarten Sitzreihe, auf der anderen Seite des Ganges.
Wann war er ins Abteil gekommen? Helios hatte das Öffnen der Tür nicht bemerkt.
Der Mann war ganz in Schwarz gekleidet und trug eine seltsame Brille auf der Nase. Er las ein Buch mit einem schwarzen Ledereinband. Die Seiten waren aus Seidenpapier. Das Buch schien gut hundert Jahre alt zu sein. Auf dem Kopf trug er einen Hut mit großer Krempe, die sein Gesicht verdeckte. Er wirkte zugegebenermaßen alles andere als vertrauenerweckend.
Helios drehte sich nicht um, sondern beobachtete das Spiegelbild weiter durch die Fensterscheibe. Allein mit diesem Kerl zu sein, machte ihm Angst. Jetzt wünschte er sich, dass sein großer, starker Cousin so schnell wie möglich ins Abteil zurückkehren würde, aber von ihm und Gaia war weit und breit nichts zu sehen.
Währenddessen las der Mann weiter in seinem Buch und hielt nur gelegentlich inne, um auf eine alte Uhr zu schauen, die er aus der Westentasche, unter seinem eleganten aber altmodischen Anzug zog.
Das brachte Helios noch mehr auf die Palme. Er fragte sich, worauf er wartete, es musste sich ganz sicher um etwas sehr Wichtiges handeln, wenn er ununterbrochen auf die Uhr schaute.
Dann, nachdem der Mann ein weiteres Mal auf seine Uhr geschaut hatte, klappte er das Buch plötzlich zu und bückte sich, um etwas aus seiner schwarzen Tasche zu holen, die zwischen seinen Beinen auf dem Boden stand. Die leicht hochgezogenen Hosenbeine gaben den Blick auf die schwarzen, mageren Knöchel und die seltsamen Socken frei, die wie schwarzes Fell aussahen.
Helios konnte seine Angst nicht mehr unter Kontrolle halten und fing an zu zittern. Da fing der Mann, während er weiter in der Tasche kramte, an zu lachen, so als hätte er sein Entsetzen bemerkt. Es war ein tiefes, schauriges Lachen, das in Helios Ohren widerhallte und um es nicht länger hören zu müssen, hielt er sich mit beiden Händen die Ohren zu. Er schloss die Augen, um das Spiegelbild dieses Mannes im Fenster nicht länger sehen zu müssen und betete im Stillen: „Mach, dass Libero zurückkommt, mach, dass Libero zurückkommt“.
Die Tür zum Abteil öffnete sich mit entschiedenem Schwung.
„Helios, was machst du da? Hast du dir in der Stadt eine Ohrenentzündung eingehandelt? Du willst doch hoffentlich nicht uns arme Bauerntölpel mit diesem Virus für zivilisierte Stadtmenschen umbringen!“
Helios zuckte zusammen, dann, als er die scherzende Stimme seines Cousins erkannte, drehte er sich um und sah Libero, der mit einer Tüte und einem Getränk in der Hand auf der Türschwelle stand und lachte. Hinter ihm biss Gaia in ein riesiges Croissant.
Von dem Mann keine Spur, wie er aufgetaucht war, war er auch wieder verschwunden. Es war alles verschwunden: der Mann, sein Buch, seine Uhr und seine Tasche.
Libero setzte sich neben ihn, gab ihm ein Croissant und bemerkte, dass er zitterte.
„Ist etwas passiert?“, fragte er ihn.
„Ich denke, ich bin nur etwas reisekrank vom Zugfahren ...“, log Helios.
Gaia verstand, dass ihr Bruder einen seiner Anfälle bekommen hatte und nahm sich vor, Libero unter vier Augen davon zu erzählen.
Der Rest der Reise verlief ohne weitere Zwischenfälle. Libero erzählte den Freunden vom Erntefest, das in Kürze stattfinden würde und an dem alle Nachbardörfer teilnahmen. Die Veranstaltung würde im Freien stattfinden, mit Volkstänzen wie der Taranta, aber auch mit moderneren Tänzen.
Helios blickte seine Schwester und seinen Cousin an und fragte sich, wie die beiden so schnell auf eine Wellenlänge gekommen waren. Aber er war froh, nicht allein zu reisen, diese seltsamen Ereignisse fingen an, ihn zu beunruhigen. War er das Opfer einer Verschwörung oder sollte er anfangen an seiner geistigen Gesundheit zu zweifeln?
Libero wurde aufgeregt, es war an der Zeit, sich zum Aussteigen vorzubereiten. Aus dem Fenster hatte er das Haus von Frau Gina gesehen, das er als Orientierungspunkt gewählt hatte. Der Zug hielt an, er trug alle Koffer, während Gaia die Wagentür