Im Dialog mit dem Körper. Susanne KersigЧитать онлайн книгу.
Mutter war ich eine Last. Sie wollte immer ihre Ruhe haben. Für sie war es am angenehmsten, wenn ich mich nicht bewegte, schön still war oder besser noch schlief. Wenn ich das noch einmal auf mich wirken lasse, spürte ich eine enorme, mich erschütternde, bis jetzt unterdrückte Wut. Jetzt wird mir ganz klar: Wenn ich nicht bereit bin, diese Aggressionen zu fühlen, sacke ich in mich zusammen und werde schläfrig. Jetzt, wo ich mir erlaube, dorthin zu spüren, setzt das ungeahnte Energien in mir frei, die mich aber auch noch ein wenig beängstigen. Neben dieser Angst empfinde ich jetzt aber auch eine große Lust, weiter zu forschen und diese Energien ins Leben zu bringen!«
Schmerzen im Schultergelenk
Konstanze pflegt seit Jahren ihren Mann, der nach einem Schlaganfall viel Zuwendung von ihr verlangt. Sie ist 63 Jahre alt und leidet seit ein paar Wochen unter Schmerzen im rechten Schultergelenk. Diese ziehen sich über den Oberarm bis in den Unterarm hinein. Krankengymnastische Behandlungen blieben bisher ohne Erfolg. Ich lade sie ein, ihre Augen zu schließen und bei der schmerzenden Symptomatik in ihrem Schultergelenk zu verweilen, ohne etwas zu tun. »Es fühlt sich an, als würde ich einen viel zu schweren Rucksack tragen.« Sie seufzt. »Das passt sehr genau zu meiner Situation mit meinem kranken Mann. Ich will sie tragen und ertragen, aber sie ist zu schwer.« Auf meine Frage hin, ob die Schulter etwas dazu sagen möchte, spürt sie in sich hinein. »Die sagt: schultere dir nicht mehr so viel auf, gönn’ dir mehr Freizeit. Fang an, Nein zu sagen. Denk erst mal an dich.« Sie schweigt. Dann äußert sie: »Wenn ich jetzt in die Schulter fühle, merke ich, dass das Ziehen fast verschwunden ist.«
Unsere Symptome enthalten meistens, wenn wir ihnen zuhören, einen Bezug zu unserem Leben. Sie sind häufig so etwas wie verschlossene Briefe, die eine wichtige, lebensförderliche Botschaft für uns haben. Nur wir selbst können ihre Botschaft empfangen. Das Problem ist, dass wir die Sprache dieser »Briefe« nicht unmittelbar verstehen. Die Symptome teilen sich uns nicht in Worten mit, sondern in Empfindungen. Der Druck im Bauch, die Schmerzen im Rücken, die Entzündung im Schultergelenk, das Brennen, Ziehen oder Stechen – wir haben erstmal keine Ahnung von deren Bedeutung. Wir brauchen etwas, um diese Empfindungen in Worte oder Bilder zu übersetzen, die wir verstehen und die für uns Sinn ergeben.
Für mich hat sich das Focusing dabei als besonders hilfreich erwiesen.
Körperwissen systematisch Entschlüsseln: Das Focusing
Die von dem Philosophen und Psychotherapeuten Eugene Gendlin entwickelte Selbsthilfe- und Therapiemethode Focusing bietet uns einen systematischen und pragmatischen Weg, um körperliche Empfindungen in Sprache zu übersetzen und damit unser inneres Heilungswissen zu entschlüsseln. Dabei ist es einfacher als man denkt, die Sprache der Symptome zu verstehen. Das Focusing entspricht in vielerlei Hinsicht dem natürlichen Prozess von Selbstheilung. Es sagt uns aber nicht wie ein psychologischer Ratgeber, dass zum Beispiel unser niedriger Blutdruck dafür spricht, dass wir Konflikte vermeiden, sondern es bringt uns Zuhören bei, das achtsame Lauschen, bei dem wir über den Körper den nächsten Schritt in Richtung Gesundheit finden.
Benutzen wir Focusing auf dem Weg zur Genesung, so wird uns kein vorgefertigter Plan für unseren Weg mitgegeben. Es sagt uns keiner »Tu dies oder lass jenes, und du wirst gesund.« Stattdessen zeigt uns unser Körperwissen wie ein Kompass den nächsten Schritt.
Das Focusing stellt uns die Haltungen und Methoden zur Verfügung, die wir brauchen, um unser inneres Wissen um Heilung und Gesundheit in Sprache oder Bilder zu übersetzen und damit zu aktivieren.
Vorschau auf den weiteren Verlauf des Buches
Bevor ich darstelle, wie Sie mithilfe von Focusing achtsame Körperdialoge durchführen können, möchte ich zunächst darauf eingehen, wie wichtig es ist, dass wir selbst die Verantwortung für unsere Gesundheit übernehmen (Kapitel 2). Nach einer kurzen Erläuterung, was Focusing ist, gehe ich auf die Macht des Geistes und der inneren Bilder, auch anhand des Placebo-Effekts ein (Kapitel 3). Sie können daraus ersehen, wie wichtig die Körperdialoge für die Aktivierung der Selbstheilungskräfte sind. Die konkreten Körperdialoge beginnen wir damit, ein Ziel zu formulieren (Kapitel 4). Danach beschreibe ich in Kapitel 5 die Grundhaltung der inneren Achtsamkeit mit ihren heilenden Qualitäten vor. In der Praxis hat es sich bewährt, vor der konkreten Symptomerforschung ein Symbol für den Inneren Arzt oder die Innere Ärztin zu finden (Kapitel 6). Anschließend wird in Kapitel 7 das Prinzip Freiraum, das die Voraussetzung für einen Körperdialog ist, mit Übungen dargestellt. Lesen Sie in Kapitel 8, wie die eigentliche Auseinandersetzung mit Symptomen und deren Entschlüsselung verlaufen kann, auch mithilfe der Kunst der achtsamen Berührung. Im Kapitel 9 stelle ich dar, wie Sie mithilfe von achtsamen Körperdialogen alle Aspekte einer Erkrankung beleuchten und Antworten nachstehende Fragen erhalten:
Wie kann ich mit den Gefühlen, die mit dem Krankheitsprozess verbunden sind, heilsam umgehen?
Welche Gedanken und Einstellungen über meine Erkrankung sind wirklich heilsam?
Wie treffe ich im Dschungel der Heilungsangebote gute, für mich stimmige Therapieentscheidungen?
Wie erkenne ich mögliche, die Krankheit aufrechterhaltende Faktoren? Wie kann ich diese ggf. loslassen und die Bedürfnisse, die sich durch diese Symptomatik ausdrücken, besser befriedigen?
Wie möchte ich mich bezüglich meiner Krankheit verhalten, sodass meine Handlungen mit meinen Empfindungen und mit meiner inneren Stimme übereinstimmen?
Wie finde ich die soziale Unterstützung, die ich für meine Gesundung brauche?
Kapitel 10 richtet sich in erster Linie an TherapeutInnen und ÄrztInnen. Dort stelle ich zunächst ein achtsames Beziehungsmodell vor und ergänze einige Aspekte der achtsamen Grundhaltung für TherapeutInnen. Focusing und Achtsamkeit in die eigene Arbeit zu integrieren bedeutet nicht zwangsläufig, andere in Körperdialogen anzuleiten. Wesentlicher ist das Handeln aus dem eigenen Felt Sense, aus der eigenen Mitte. Das Buch schließt mit Aussagen von MedizinerInnen über die Erfahrungen mit Focusing in ihrer Praxis und mit weiteren Informationen.
Ich habe zur Anschaulichkeit die meisten Übungen durch Fall-Beispiele illustriert. Diese Beispiele stammen entweder von KlientInnen aus meiner psychotherapeutischen Praxis – die Prozesse habe ich mitstenografiert – oder von meinen SeminarteilnehmerInnen, die sie im Nachhinein selbst protokollierten. Die Namen wurden zum Zwecke der Anonymisierung geändert, teilweise auch die biographischen Daten. Für die bessere Lesbarkeit habe ich mir erlaubt, die Dialoge zu kürzen und zusammenzufassen.
Einladung zur Selbsterfahrung
Ein Gramm Praxis wiegt mehr als tausend Tonnen Theorie auf.
SPRICHWORT
Wenn wir wissen wollen, wie eine Mango schmeckt, müssen wir sie essen, sagt ein Sprichwort. Sie halten momentan nur eine Landkarte für einen Prozess in Ihren Händen. Wollen Sie wirklich wissen, wie sich ein achtsamer Körperdialog anfühlt, dann reicht es nicht aus, ein Buch zu lesen, denn damit allein können Sie es nicht lernen. Focusing muss persönlich erfahren werden. Im Dialog mit dem Körper möchte aber ein Anstoß dazu sein, sich selbst auf den Weg des inneren Zuhörens zu begeben. Viele der vorgeschlagenen Übungen können Sie entweder selbstständig mithilfe der gesprochenen Meditationsanleitungen oder mithilfe einer achtsamen Zuhörerin oder einer Begleiterin durchführen wie zum Beispiel zum Beispiel einem guten Freund oder einer Freundin. Sobald jemand Sie mitfühlend begleitet, ohne sich inhaltlich einzumischen, werden Ihre Körperdialoge sehr an Tiefe gewinnen. Gleichzeitig wird es Ihnen leichter fallen, beim Strom Ihres inneren Erlebens zu bleiben und nicht gedanklich abzuschweifen. Manche Übungen können tiefer gehen, wenn Sie die Selbsthilfemethode des Focusings in einem Seminar oder besser noch in einer Weiterbildung systematisch erlernen oder wenn Sie eine geschulte Focusing-Therapeutin oder -Therapeuten aufsuchen, um sich von dieser bzw. diesem begleiten zu lassen. Adressen finden Sie im Anhang dieses Buches.
Mit der Einladung zur Selbsterfahrung möchte ich auch die Ermutigung verbinden,