Im Dialog mit dem Körper. Susanne KersigЧитать онлайн книгу.
und selbstverantwortlicher, und möchten, dass ihnen MedizinerInnen partnerschaftlicher begegnen als noch vor einigen Jahrzehnten. Vielleicht wird ja der Begriff »Patient«, lateinisch »geduldig, aushaltend, ertragend«, eines Tages durch das passendere Wort »Agent«, also jemand, der handelt, ersetzt – das wünscht sich Harald Walach, der ehemalige Leiter des Instituts für transkulturelle Gesundheitswissenschaften an der Europa-Universität Viadrina. (Walach 2011)
»Die Kraft des Arztes liegt im Patienten«, erkannte Paracelsus bereits im 16. Jahrhundert. Medikamente und Operationen können den Heilungsprozess unterstützen und anregen. Letztendlich findet er aber im Körper und Geist der Betroffenen statt, mithilfe ihrer Fähigkeit zur Selbstheilung. Um als PatientInnen die eigene Kompetenz und Verantwortung voll ausschöpfen und wirklich das Steuer in die Hand nehmen zu können, brauchen wir neben einer guten fachlich-medizinischen Begleitung auch Wissen und Methoden, um die Sprache unseres Inneren Arztes / unserer Inneren Heilerin zu verstehen und zu nutzen. Dieses Wissen möchte ich Ihnen in dem vorliegenden Buch an die Hand geben.
Kapitel 2
Grundlage des Körperdialogs: Das Focusing
Eugene Gendlin, der Begründer der Selbsthilfemethode des Focusings, ist ein 1926 in Österreich geborener und 2017 in den USA verstorbener Philosoph und Psychotherapeut, der in New York lebte, schrieb, therapierte und unterrichtete. Faszinierend waren für mich seine Augen: Wach, lebendig, warm und eine Tiefe ausstrahlend. Wenn er sprach, wirkte es häufig auf mich so, als kämen seine Worte nicht aus dem Vorratsspeicher seines Gedächtnisses, sondern als würden sie in diesem Moment völlig frisch aus seiner Intuition und seinem jetzigen Erleben geformt. Sprache mit ihren Worten, Vorstellungen und Konzepten hat ja oft die Eigenschaft, die Welt in ihre Einzelteile zu zerlegen und zu trennen. Nicht so bei Gendlin. Sprach er, empfand man beim Zuhören ein tiefes Gefühl von Verbundenheit. Es war so, als kämen seine Worte aus einer tieferen Schicht seines Bewusstseins, in dem alle Dinge eins sind und in Verbindung miteinander stehen.
Als junger Mann arbeitete er in Chicago an einem Forschungsprojekt von Carl Rogers mit, dem Begründer der Klientenzentrierten Psychotherapie. Die Fragestellung des Projektes war: Was wirkt eigentlich in einer Psychotherapie? Um diese Frage zu beantworten, nahm man tausende Therapiesitzungen unterschiedlicher Richtungen und verschiedener TherapeutInnen auf Tonband auf und wertete sie aus. Dabei machte Gendlin eine erstaunliche Entdeckung: Ob eine Klientin oder ein Klient mit der Therapie Erfolg haben würde oder nicht, hing gar nicht so sehr von der gewählten Psychotherapie-Methode oder von der Persönlichkeit des Therapeuten bzw. der Therapeutin ab, wie man vielleicht vermuten würde, sondern in erster Linie von den Betroffenen selbst! An der Art, wie sie ihr Problem in der ersten Sitzung vortrugen, konnte man zuverlässig vorhersagen, ob die Therapie zu den gewünschten Veränderungen führen würde oder nicht. KlientInnen, die beim Sprechen auch manchmal innehielten, seufzten, stammelten, nach einem Wort rangen, Menschen also, bei denen die Sprache mit dem Körper verbunden war, zeigten im Laufe des therapeutischen Prozesses die gewünschten Veränderungen. Redete aber eine Person ohne sichtbare emotionale Beteiligung über ihr Problem, hatte sie später auch nicht den gewünschten Therapieerfolg.
Was machten denn nun »erfolgreiche« KlientInnen anders als die Nicht-Erfolgreichen? Offenbar spürten sie in ihren Körper hinein, während sie sprachen. Sprache und inneres Erleben waren also miteinander verbunden.
Gendlin untersuchte dieses Phänomen umfassend und bildete es in einer Methode ab, die er Focusing nannte. Es handelt sich beim Focusing demnach nicht um etwas vollständig Neues, sondern das Focusing systematisiert nur einen Prozess, den wir alle kennen, wenn wir eine Einsicht haben, die nicht nur kognitiv ist, sondern uns verändert. Ein Aha-Erlebnis, eine körperlich gefühlte Erkenntnis, die uns aufatmen lässt, die unser Lebensgefühl erweitert und uns anders handeln lässt als zuvor. Wie kommt es nun zu einem derartigen Aha-Effekt?
Gendlin hat diesen organismischen Prozess in sechs Schritten abgebildet, um ihn als Methode lehrbar zu machen. Wir brauchen dafür zunächst ein Thema, eine Fragestellung. Das Thema könnte z. B. sein: Was hindert mich daran, gesund zu werden?
Die sechs Schritte im Focusing
1 Zu Beginn des Prozesses schaffen wir Freiraum, um genügend Abstand zu haben, damit etwas Neues passieren kann (vgl. Kapitel 7).
2 Der Felt Sense: Nun lassen wir das Thema auf uns wirken und achten darauf, wie es sich in unserem Körper anfühlt, welche körperlich gefühlte Resonanz es auslöst. Diese Resonanz, z. B. ein mulmiges Gefühl im Bauch, wird Felt Sense genannt. In ihr steckt die ganze Bedeutung, die ein Thema für uns hat. Verweilen wir bei ihr mit absichtsloser Aufmerksamkeit, entfaltet sich von alleine der Sinngehalt des Themas. Es entstehen Bilder, Worte, Gefühle oder Gesten, die unser inneres Erleben ausdrücken und bewusst machen. Passen diese Symbolisierungen des Felt Sense, dann spüren wir, dass durch sie eine Veränderung des Bauchgefühls geschieht: Es wird entweder stärker, nimmt ab oder verwandelt sich in ein anderes Empfinden.Im Deutschen wurde der Begriff Felt Sense (etwa: »gefühlte Bedeutung«) beibehalten, da es sich um ein Kunstwort von Eugene Gendlin handelt, das deutlich mehr bezeichnet, als Sprache aussagen kann, und sich insofern schlecht übersetzen lässt.
3 Wir begrüßen und benennen das, was wir wahrnehmen, und verweilen dann absichtslos dabei. Vielleicht tritt als Felt Sense ein Druck in der Magengegend auf. Diesen »Druck« nennt man einen Griff. Damit haben wir schon etwas vom Felt Sense, aber noch nicht seine ganze Bedeutung.
4 Jetzt vergleichen wir die von selbst auftauchenden Symbole (Worte, Bilder, Gefühle, Körperempfindungen oder Bewegungen) mit dem inneren Erleben. Aus dem Wort »Druck« wird vielleicht eine Steinplatte, die erdrückend wirkt. Im Spüren und Symbolisieren findet der Kernprozess des Focusings statt.
5 Wenn es stockt, können wir Fragen stellen, z. B.: Passt diese Steinplatte zu irgendetwas in meinem Leben? Gibt es etwas, das sich so erdrückend anfühlt wie diese Steinplatte? Plötzlich taucht die Erinnerung an eine kranke Schwester auf, auf die wir Rücksicht nehmen mussten. Wir erkennen, dass wir uns innerlich Heilung nicht vollständig erlauben, um die Schwester nicht noch mehr in den Schatten zu stellen. Diese Erkenntnis führt zu einer Erleichterung – dem Felt Shift. Wir atmen auf, die Steinplatte ist kaum noch spürbar. Ein Felt Shift ist ein körperlich gefühltes Aha-Erlebnis. Wenn aus dem Felt Sense eine Symbolisierung aufgetaucht ist, die zu unserem inneren Erleben passt, eine neue Erkenntnis oder Einsicht, atmen wir auf und der Felt Sense verändert sich fühlbar.
6 Zum Schluss schauen wir, was es braucht, um die neue Erkenntnis anzunehmen und vor möglichen kritischen Stimmen zu schützen.
Anwendungsmöglichkeiten von Focusing
Das Focusing ist eine Methode der Therapie und Selbsthilfe, die man
mit sich alleine durchführen kann. Dies ist die schwierigste Anwendungsform, denn hierbei muss man gleichzeitig focussieren und sich selbst begleiten. Die Gedanken können leicht abschweifen. Deshalb kann es hilfreich sein, sich während des Prozesses Stichworte zu machen.
zu zweit, als partnerschaftliches Focusing: machen kann. Man schließt sich dabei mit einer Person zusammen, die möglichst ein wenig Focusing gelernt hat oder einfach eine gute Zuhörerin ist und durch ihre Aufmerksamkeit den Prozess begleitet. Dies ist die häufigste Anwendungsform des Focusings.
als Form der Psychotherapie oder Beratung professionell anwenden kann: Hierzu braucht es eine Therapieausbildung in Focusing. Wie Sie einen geschulten Focusing-Therapeuten oder eine Therapeutin, finden lesen Sie bitte im Anhang des Buches.
mit vielen anderen Methoden, wie zum Beispiel Homöopathie, Osteopathie, Kunsttherapie oder Alexandertechnik gut verbinden kann.
Die vorgeschlagenen Körperdialoge können Sie also entweder allein durchführen oder mithilfe eines (Focusing-) Partners oder eines gelernten Psychotherapeuten oder einer Psychotherapeutin. Je nachdem, wie gut Sie sich selbst oder wie gut Ihr Partner bzw. Ihre Therapeutin