Physikalische Chemie. Peter W. AtkinsЧитать онлайн книгу.
wie die Schmelztemperatur vom Druck abhängt. Ihre große Steigung bedeutet, dass sehr hohe Drücke erforderlich sind, um eine merkliche Änderung dieser Temperatur zu erreichen. Bemerkenswert ist, dass die Steigung dieser Kurve bis zu einem Druck von 200 MPa (2 kbar) negativ ist, d. h. die Schmelztemperatur sinkt mit steigendem Druck.
Abb. 4.9 Das experimentell bestimmte Phasendiagramm von Wasser; man erkennt die verschiedenen festen Phasen, die mit römischen Ziffern I, II, … bezeichnet sind; bei der festen Phase I (Eis‐I) handelt es sich um gewöhnliches Eis. Der Pfad zwischen den Punkten ABCD wird in Illustration 4.7 diskutiert.
Abb. 4.10 Ausschnitt aus der Struktur von Eis‐I. In einer tetraedrischen Anordnung ist jedes O‐Atom über kovalente Bindungen mit zwei H‐Atomen und über Wasserstoffbrückenbindungen mit zwei benachbarten O‐Atomen verknüpft.
Der Grund für dieses ungewöhnliche Verhalten ist, dass das Volumen von Wasser beim Schmelzen abnimmt; daher ist bei Druckerhöhung die flüssige Form bevorzugt. Die Volumenabnahme wird durch die aufgelockerte Struktur im Eis verursacht (Abb. 4.10), die man wiederum auf die Wasserstoffbrückenbindungen zurückführen kann (sie halten die Moleküle zusammen, sind aber gleichzeitig für den lockeren Aufbau verantwortlich). Beim Schmelzen bricht diese Nahordnung teilweise zusammen, sodass die Dichte des flüssigen Wassers größer ist als die von Eis. Andere Konsequenzen der ausgeprägten Wasserstoffbrücken im Wasser sind der für eine Substanz mit der Molmasse von Wasser außergewöhnlich hohe Siedepunkt oder die hohen Werte für die kritische Temperatur bzw. den kritischen Druck.
Wie man Abb. 4.9 entnehmen kann, hat Wasser neben einer flüssigen gleich mehrere feste Phasen (zusätzlich zu dem gewöhnlichen „Eis‐I“), von denen manche bei hohen Temperaturen schmelzen. Der Schmelzpunkt von Eis‐VII liegt beispielsweise bei etwa 100 °C; es existiert allerdings nur bei Drücken oberhalb von 2,5 GPa (25 kbar). 2006 wurden zwei weitere Phasen (Eis‐XIII und Eis‐XIV) entdeckt, die bei –160 °C schmelzen; ihnen konnten allerdings noch keine Bereiche im Phasendiagramm zugeordnet werden. Außer dem Tripelpunkt Wasser/Eis‐I/Wasserdampf gibt es noch viele weitere Tripelpunkte in dem Diagramm. Zu jedem gehört nur jeweils ein festes Wertepaar aus Temperatur und Druck. Die festen Phasen unterscheiden sich in der Anordnung der Wassermoleküle: Bei sehr hohem Druck verformen sich die Wasserstoffbrückenbindungen und verschiedene Nahordnungen der Moleküle sind möglich. Die Existenz der verschiedenen Modifikationen oder Polymorphe von Eis könnten für das Fließen von Gletschern mitverantwortlich sein, da das Eis am Grund eines Gletschers, an der Grenze zum unebenen Gestein, einem sehr hohem Druck ausgesetzt ist.
Illustration 4.7
Betrachten Sie den in Abb. 4.9 eingezeichneten Pfad zwischen den Punkten ABCD. Am Punkt A liegt Wasser als Eis‐V vor. Bei zunehmendem Druck bis zum Punkt B bei derselben Temperatur bildet sich Eis‐VIII. Ein Anstieg der Temperatur bis zum Punkt C führt zur Bildung von Eis‐VII, und eine Reduktion des Drucks bis zum Punkt D führt zum Schmelzen des Feststoffs zu flüssigem Wasser.
(c) Helium
Bei der Diskussion von Helium bei tiefen Temperaturen muss man zwischen den Isotopen 3He und 4He unterscheiden. Bei 3He handelt es sich um ein Fermion, und 4He ist ein Boson – daher verhalten sich diese Isotope gemäß dem Pauli‐Prinzip aus quantenmechanischen Gründen unterschiedlich (siehe Abschn. 8.2). Das Phasendiagramm von 4He ist in Abb. 4.11 dargestellt. Helium zeigt bei tiefen Temperaturen ein ungewöhnliches Verhalten, da seine Atome eine so kleine Masse besitzen und die geringe Zahl seiner Elektronen zu außergewöhnlich schwachen Wechselwirkungen zwischen ihnen führt. Bei einem Druck von 1 atm existiert nirgends (auch nicht bei sehr niedrigen Temperaturen), ein Gleichgewicht zwischen fester und Gasphase: Die Heliumatome schwingen durch ihre geringe Masse mit so großer Amplitude, dass ein Festkörper nicht stabil wäre. Festes Helium kann man nur herstellen, indem man bei niedrigen Temperaturen einen Druck anlegt, der die Atome „mit Gewalt“ zusammenhält.
Abb. 4.11 Phasendiagramm von Helium (4He). Die λ‐Linie kennzeichnet die Bedingungen, bei denen beide flüssigen Phasen im Gleichgewicht vorliegen. Helium‐II ist die suprafluide Phase. Festes Helium kann man erst bei Drücken oberhalb von 20 bar gewinnen. Die Bezeichnungen hcp (von engl. hexagonally close‐packed; hexagonal dichte Packung) und bcc (von engl. body‐centered cubic; kubisch raumzentriert) stehen für feste Phasen mit unterschiedlicher Kristallstruktur (diese Strukturen werden in Abschn. 15.1 beschrieben). Der Pfad zwischen den Punkten ABCD wird in Illustration 4.8 diskutiert.
Abb. 4.12 Die Wärmekapazität von suprafluidem Helium‐II steigt mit der Temperatur umso stärker an, je näher man sich der Übergangstemperatur zu Helium‐I annähert. Aufgrund des Verlaufs des Graphen in dieser Auftragung hat sich die Bezeichnung λ‐Übergang durchgesetzt; die Phasengrenze zwischen den beiden flüssigen Phasen im Phasendiagramm nennt man λ‐Linie.
Reines 4He besitzt zwei flüssige Phasen. Eine von ihnen (im Diagramm mit He‐I) bezeichnet) verhält sich wie eine gewöhnliche Flüssigkeit, die andere (He‐II) ist ein Suprafluid (ihre Viskosität ist null). Neuere Forschungsarbeiten deuten darauf hin, dass auch Wasser eine suprafluide Phase haben könnte. Abgesehen von den in Anwendung 8: „Materialwissenschaft – Flüssigkristalle“ am Ende von Abschn. 5.3 vorgestellten Flüssigkristallen ist Helium der einzige Stoff mit einem Phasenübergang zwischen zwei flüssigen Phasen; in Abb. 4.11 ist die zugehörige Phasengrenze, die λ‐Linie (Lambda‐Linie), gekennzeichnet. Sie wird so bezeichnet, da eine Auftragung der Wärmekapazität von 4He gegen die Temperatur bei der Übergangstemperatur an die Gestalt des griechischen Buchstabens Lambda erinnert (Abb. 4.12).
Das Phasendiagramm von 3He ist anders aufgebaut, aber auch von diesem Isotop kennt man eine suprafluide Phase. Eine weitere ungewöhnliche Eigenschaft ist, dass am Schmelzpunkt die Entropie der Flüssigkeit größer ist als die des Festkörpers und der Schmelzvorgang daher exotherm verläuft (ΔSmH < 0 wegen ΔSmS = ΔSmH/TSm).
Illustration 4.8
Betrachten Sie den in Abb. 4.11