Kompetenzentwicklung und Mehrsprachigkeit. Gisela MayrЧитать онлайн книгу.
Transfer auf der Basis von Transferbasen führt (vgl. Hufeisen & Neuner 2004a; De Angelis 2005; Singleton 2006; Pavlenko & Jarvis 2002; Cheung et al. 2011). Sprachen können sich demzufolge gegenseitig beeinflussen und es lassen sich, meist über eine Brückensprache, aufgrund von Ähnlichkeiten Hypothesen über die Zielsprache aufstellen. Der Verwandtschaftsgrad der Sprachen spielt hier laut Meißner (Meißner 1995, 2003b) eine wichtige Rolle, da bei Sprachen der gleichen Sprachgruppe eine größere Anzahl von Transferbasen zur Verfügung steht. Der Transfer kann in erster Linie auf grammatischer, lexikalischer und morpho-syntaktischer Ebene erfolgen. Jedoch gibt es laut Meißner auch einen Transfer über die Sprachenoberfläche hinaus (Meißner & Reinfried 1998: 48f.). Dieser betrifft Aspekte des Weltwissens und der Kultur und Interkulturalität. Folglich wird Mehrsprachigkeitsdidaktik auch Mehrkulturalitätsdidaktik (Meißner & Reinfried 1998: 5), da das Verständnis anderer Sprach- und Kulturbereiche gefördert wird und gleichzeitig eine Infragestellung der eigenen kulturellen Maßstäbe erfolgt.
Der damit einhergehende Bewusstwerdungsprozess und die Anwendung eben dieser Transfermöglichkeiten kann, unterstützt durch eine korrekte Steuerung im Unterricht, eine Beschleunigung des Spracherwerbsprozesses und des interkulturellen Lernens bewirken. Meißner unterscheidet weitere Typen von Transfer: Reidentifikations- und Produktionstransfer, didaktischer Transfer und lingual-materialer Transfer (Meißner 2010: 383). Entlang dieser Diskussionsebene ließen sich aber außerdem Transfertypen identifizieren wie: Transfer von Lernerfahrungen, Lernstrategien, Transfer von Inhalten und Wissen (z.B. über Kultur und Genres) und Transfer von Gefühlen und Haltungen.
Ein mehrsprachiges, textzentriertes Arbeiten, eingebettet in einen kompetenzorientierten Unterricht, wie es in den Modulen des Forschungsprojektes der Fall ist, bietet hier ideale Voraussetzungen, damit sich dieses breitgefächerte Transferpotenzial durch die Arbeit an und mit plurilingualen Unterlagen in seinem gesamten Umfang entfalten kann. Insbesondere wird hier auch das Transferpotential nicht verwandter Sprachen aufgezeigt. Denn der Transfer erfolgt nicht immer innerhalb der gleichen Sprachfamilie, sondern die Wahl der Brückensprache entspricht besonderen Bedürfnissen, die sich im Moment des Sprechens ergeben.
3.2 Die Interkomprehension und ihre Didaktik
In engem Zusammenhang mit der Mehrsprachigkeitsdidaktik steht die Interkomprehensionsdidaktik, die in den Folgejahren von Meißner, Hufeisen und Neuner ausgearbeitet wurde (Hufeisen & Neuner 2003b, 2004a; Hufeisen 2010a; Byram 2010). Sie nutzt laut Meißner (Meißner 2010: 381) die Fähigkeit des Individuums, unbekannte Sprachen ohne formalen Lernprozess zu verstehen. Das bedeutet, dass durch bereits vorhandene sprachliche Archetypen fremdsprachliche Aspekte in allen Bereichen identifiziert, abgeglichen, angepasst und in eine noch unbekannte Zielsprache transferiert werden, um diese zu verstehen. Bei dieser Methode wird nicht die aktive Sprachproduktion in der Fremdsprache gefördert, sondern es werden hauptsächlich rezeptive Fähigkeiten angelegt, die es vor allem im europäischen Sprachraum ermöglichen sollen, fremdsprachliche Texte innerhalb derselben Sprachfamilie zu erschließen. So können z.B. vom Deutschen ausgehend anhand gezielter Texterschließungsstrategien, das Norwegische und Schwedische erschlossen werden. Solche rezeptive Fähigkeiten werden besonders durch den Sprachvergleich gefördert. Mit Blick auf diese Eigenschaft interkomprehensiven Lernens kann in Bezug auf das hier vorgestellte Unterrichtsprojekt gesagt werden, dass Formen interkomprehensiven Lernens sich insbesondere für Französisch herauskristallisiert haben, wobei auch in diesem Fall die kritische mehrsprachige Texterschließung und die damit einhergehende ständige Mediation zwischen Sprachen und ihren Strukturen einen grundlegenden Beitrag leisten. Die Lernenden konnten zudem Vorgelerntes in anderen Sprachen auf das Französische übertragen und dadurch den Verständnisprozess erleichtern und beschleunigen.
3.2.1 Metakognition und Language Monitoring
Die Interkomprehension löst das Desiderat im Bereich der Didaktik ein, das „verfügbare, mehrsprachliche und potenziell lernrelevante ‚träge Wissen’ in aktives, den Erwerbsprozess förderndes Wissen umzuwandeln“ (Meißner 2010: 383; Doyé 2006: 16). Dazu werden laut Meißner Strategien aus dem kognitiven und metakognitiven Bereich herangezogen, die auch zur Bewusstwerdung der Lernsteuerung beitragen. Es werden in der Interkomprehension also keine Sprachstrukturen vermittelt, als vielmehr Strategien entwickelt, mittels welcher Neues auf Bekanntes zurückgeführt werden kann. Die daraus resultierende erhöhte Sprachlern- und Rezeptionskompetenz führen in der Folge zu einer erweiterten Lernautonomie, wie Doyé sie beschreibt (Doyé 2010b: 133), da die ständige Hypothesenbildung und Verifizierung bzw. Falsifizierung, welche im Zuge der interkomprehensiven Texterschließung entsteht, einen sehr hohen kognitiven Anforderungsgrad für die Lernenden mit sich bringt. Dadurch bildet sich eine entdeckende und überprüfende Haltung heraus, die sich fördernd auf die Lernautonomie auswirkt. Eben dieser Wechsel von einer geleiteten in eine selbstgesteuerte, lernautonome Unterrichtsform führt auch in der mehrsprachigen komplexen Kompetenzaufgabe dazu, dass die Lernenden neue Lernkanäle und Lernformen entdecken, die für sie besser nutzbar sind und eigene Strategien entwickeln, um komplexe mehrsprachige Situationen zu meistern. Dabei nehmen die Lernenden eine forschende und verifizierende Haltung beim Sprachenlernen ein, die es ihnen ermöglicht, sprachübergreifend Hypothesen aufzustellen und diese gemeinsam zu überprüfen (ibid.: 135f.).
In diesem Zusammenhang wird der Begriff Language Monitoring, so wie ihn Jessner bereits 2004 postuliert (Jessner 2004: 113), für die vorliegende Studie relevant, wird aber in dieser Form in der Theoretisierung der Interkomprehension nicht erwähnt. Bär (Bär 2009: 72) spricht ausschließlich vom Monitorisieren des Sprachlernprozesses, nicht aber von dem der Sprachen selbst. Das metalinguistische Bewusstsein (Language Monitoring) ist laut Jessner die Fähigkeit zwei- bzw. mehrsprachiger Menschen, ihre Sprachen und ihre Sprachproduktion ständig zu überwachen, zu vergleichen, zu kontrollieren und im Idealfall durch Autokorrektur zu verbessern. Daraus resultieren ein sehr hohes Sprachbewusstsein und Flexibilität im Umgang mit Sprachen. Meißner spricht in diesem Zusammenhang von Metakognition und metasprachlicher Kompetenz in Bezug auf Interkomprehension (Meißner & Morkötter 2009: 53) und der Relation zwischen metasprachlichem und metakognitivem Wissen. Laut Meißner ist metakognitives Wissen nicht sprachspezifisch, es wird in Relation zum metasprachlichen Wissen gebracht, indem es von den Lernenden bei der Aufgabenanalyse herangezogen wird. Es bestehen also laut Meißner und im Gegensatz zu Jessner zwei Ebenen der Metakognition, eine sprachunabhängige und eine sprachabhängige, die bei der konkreten Aufgaben- und Problemlösung eingesetzt wird. Die Existenz einer sprachunabhängigen Metakognition scheint jedoch nicht sehr plausibel, weshalb für die vorliegende Studie Jessners Modell herangezogen wird.
3.2.2 Interlingualer Transfer
Im Zuge der mehrsprachigen Sprachverarbeitung können interlinguale Transferbasen identifiziert und Hypothesen gebildet werden. Diese wiederum werden aufgrund von Plausibilitätsprüfungen verifiziert oder falsifiziert (Meißner & Reinfried 1998: 46). Bei der Plausibilitätsprüfung spielt die „soziale Unterstützung“, wie sie Meißner nennt, eine relevante Rolle: Hypothesen können im Austausch mit anderen und durch Übersetzungen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Hier kommen Formen sozialen Lernens, wie sie sich die mehrsprachige komplexe Kompetenzaufgabe zum Ziel setzt, zum Tragen. Die Lernenden können sich in der Gruppe austauschen und gemeinsam sprachübergreifend Hypothesen überprüfen und vergleichen. Dadurch wird eine Vielzahl an Ressourcen mobilisiert, die sich als lernfördernd erweisen. Damit eng verbunden ist die Fähigkeit, Details zu verstehen und zuzuordnen unter der Anforderung eines hohen Maßes an Korrekturfähigkeit, enzyklopädischem Wissen und Rekonstruktionsfähigkeit (ibid.: 57). Es entstehen laut Meißner sog. Interlexeme oder Brückenwörter, die über Sprachbrücken zur zielsprachlichen Kompetenz führen. Folglich sind negative Transferleistungen bzw. Interferenzen eher als kreativer Aspekt des Fremdsprachenerwerbsprozesses zu sehen und Ausdruck einer provisorischen Hypothesengrammatik (ibid.: 59). Dabei spielt das Prinzip der thematischen Einbettung eine zentrale Rolle, da die Verarbeitungsprozesse der thematischen Interpretation laut Meißner (ibid.: 60) nicht auf einer lexiko-grammatischen Ebene ablaufen, sondern auf der thematischen Auslegung der Nachricht beruhen. Da nun Themen kulturspezifisch verarbeitet und aktualisiert werden, sind Transferbasen nicht ausschließlich sprachlich zu verorten,