Kompetenzentwicklung und Mehrsprachigkeit. Gisela MayrЧитать онлайн книгу.
einzubauen, Zeit brauchen. Es muss mit „beträchtlichem Beharrungsvermögen von Etabliertem, Traditionellem und immer schon Dagewesenem gerechnet werden, so dass man beim Versuch, Schule gesamtcurricular zu entwickeln, einen langen Atem haben muss“ (ibid.: 172).
Sowohl das Curriculum Mehrsprachigkeit als auch das Gesamtsprachencurriculum sind Ansätze, die die systematische Implementierung von Mehrsprachigkeit und den Umgang mit Sprachenvielfalt an Schulen vorantreiben. Ersteres übernimmt stützende Funktion, indem sprachübergreifende und sprachsensibilisierende Maßnahmen in den Sprachunterricht aufgenommen werden. Letzteres sieht die Umstrukturierung des gesamten Sachfach- und Sprachunterrichtes vor, indem stufenübergreifend mehrsprachiger Unterricht vorgesehen ist. Dies ist ein klarer Bruch mit der traditionellen Strukturierung schulischen Unterrichts, der aufgebrochen werden müsste, um für den Alternativvorschlag Platz zu machen. Eine derart radikale Umstrukturierung findet, wie von Hufeisen eingestanden, nicht leicht ihren Weg von der Theorie in den schulischen Alltag, weshalb auch bis jetzt keine systematischen Umsetzungsversuche in diese Richtung bekannt sind.
Das vorliegende Projekt versteht sich auch als ein Vorschlag, durch modulare Anlegung mehrsprachigen Unterricht curricular zu verankern. Es lässt sich zwischen den beiden vorhergehenden Ansätzen verorten. Die modulare Gestaltung des Projektes macht sich Freiräume im curricularen Unterricht zunutze, um mehrsprachigkeitsdidaktisch arbeiten zu können, hat aber keine so einschneidende Auswirkungen wie das Gesamtsprachencurriculum und stellt daher eine Möglichkeit dar, wie dieses schrittweise in den schulischen Alltag integriert werden kann. Gleichzeitig geht es einen Schritt weiter als Krumms Curriculum Mehrsprachigkeit, indem es nicht von theoretischen Prämissen ausgeht, die in den Unterricht eingebaut werden sollten, sondern es werden modular gestaltete Unterrichtseinheiten in den Regelunterricht eingebaut und die Lernprozesse erhoben. Es handelt sich also nicht um eine einmalige Durchführung mehrsprachiger Module nach der Komplexen Kompetenzaufgabe mit dem ausschließlichen Ziel, Daten zur Entwicklung mehrsprachiger kommunikativer Kompetenzen zu erheben, sondern um ein Schulprojekt, das die Implementierung und curriculare Verankerung dieser Form des modularen mehrsprachigen Unterrichts im Sinne des MSCS (Mehrsprachencurriculum Südtirol) vorsieht (cf. 5.2.). Durch die modulare Gestaltung können diese Einheiten ergänzend zum traditionellen Unterricht eingebaut werden, um Lernprozesse zu initiieren, die sich ausschließlich in einem mehrsprachigen Setting entfalten können. Dieser Kompetenzzuwachs und die damit einhergehenden Lernprozesse können auf den Regelunterricht übertragen werden und so nicht nur lernfördernd und -beschleunigend wirken, sondern auch zur Persönlichkeitsentfaltung der Lernenden beitragen. Daher werden diese Lernprozesse in der vorliegenden Studie untersucht und eine erste modellhafte Zusammenschau entworfen. Dadurch stellt es eine mögliche Umsetzung des MSCS dar.
2.4.3 Aktuelle Projekte zur Mehrsprachigkeitsdidaktik
Im Folgenden werden einige Projekte im Bereich Mehrsprachigkeit kurz umrissen, damit soll das Innovationspotential mehrsprachigen Unterrichts aufgezeigt werden. Sie sind ein Indiz dafür, dass die veränderten lebensweltlichen Umstände Einfluss nehmen auf die schulische Praxis und dafür, wie Institutionen und Forschungszentren auf diese Herausforderung mit innovativen Ansätzen reagieren. Sie tragen der Tatsache Rechenschaft, dass Unterricht nicht in den gewohnten Bahnen weitergeführt werden kann, sondern neue Mittel und Wege angedacht werden müssen. Diese Darstellung versteht sich als ein Überblick und hat keinen Vollständigkeitsanspruch:
MEZ: „Mehrsprachigkeitsentwicklung im Zeitverlauf“ (MEZ). Diese im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter der Leitung von Prof. Ingrid Gogolin an der Universität Hamburg durchgeführte höchst interessante Longitudinalstudie erforscht die Entwicklung lebensweltlicher Mehrsprachigkeit und ihre Auswirkungen auf den schulischen Erfolg. Dabei werden auch Schulleistungsvergleichsuntersuchungen durchgeführt.
MALEDIVE: „Sprachliche und kulturelle Vielfalt im Mehrsprachenunterricht“ (MALEDIVE) wird am ECML (Europäisches Centrum für Mehrsprachigkeit) durchgeführt, mit dem Ziel, mehrsprachige Lernumgebungen für den Lernprozess nutzbar zu machen. Dabei wird ein besonderes Augenmerk auf Persönlichkeitsentwicklung und Identität der Lernenden gelegt. Ein weiterer Brennpunkt ist die curriculare Verankerung mehrsprachigen Unterrichts.
voXmi: „Sprachen miteinander und voneinander lernen“ (voXmi). Hierbei handelt es sich und ein vom BIMM (Österreichischen Bundesministerium für Interkulturalität, Migration und Mehrsprachigkeit) unterstütztes Schulnetzwerk mit dem Zweck, neue Wege für den Sprachunterricht unter besonderem Einsatz digitaler Medien und authentischer Kommunikation zu finden. Dieses Netzwerk ist von höchster Praxisrelevanz und ist auch im Bereich der Professionalisierung von Lehrpersonen tätig. Es sind viele Bundesländer und Pädagogische Hochschulen daran beteiligt.
Plure>E: Plurilingual Whole School Curricula (Plur>E), ein von der EU finanziertes Erasmus+Projekt und Fortführung des 2015 abgeschlossenen PlurCur Projektes, an dem die TU Darmstadt, TU Tralee und Universität Turku gemeinsam mit einem Netzwerk von europäischen Schulen beteiligt sind. Ziel dieses Projekt ist es, Vorschläge für ein Gesamtsprachencurriculum auszuarbeiten und Beispiele für Best Practice für andere Schulen und Institutionen zugänglich zu machen. Dabei wird ein besonderes Augenmerk darauf gelegt, das Schulmanagement und die Bildungspolitische Ebene miteinzubeziehen, indem konkrete Vorschläge und Informationen ausgearbeitet und weitergeleitet werden.
3. Mehrsprachigkeitsdidaktische Ansätze und neue Perspektiven
Die Mehrsprachigkeitsdidaktik kann auf eine nunmehr über 20-jährige Tradition zurückblicken. Es haben sich im deutschen Sprachraum im Laufe der Zeit drei verschiedene Ansätze herauskristallisiert: die Mehrsprachigkeitsdidaktik nach Meißner, die Interkomprehension, das Tertiärsprachenlernen und CLIL. Allen ist der Versuch gemeinsam, simultanes Sprachenlernen in der Praxis umzusetzen, indem Synergien zwischen den Sprachen auf den verschiedensten Ebenen genutzt werden. In diese Tradition lässt sich auch der in diesem Projekt entwickelte mehrsprachige kompetenzorientierte Ansatz einreihen. Daher werden im Folgenden die unterschiedlichen Ansätze in ihrer Relevanz für die gegenwärtige Studie erläutert und zu dieser in Beziehung gesetzt, um ein vollständiges Bild der gesamten Entwicklung der möglichen Lernprozesse und der für die Studie daraus gewonnenen Erkenntnisse zu ermöglichen. Im Anschluss werden noch offene Desiderate vorgestellt, deren Erfüllung zumindest ansatzweise im gewählten Unterrichtsformat anvisiert wird.
3.1. Mehrsprachigkeitsdidaktik nach Meißner
Dieser Ansatz legt erstmals das umfassende Transferpotential offen, das in einem mehrsprachigen Unterricht aktiviert wird. Da Transfer in all seinen Formen auch ein wichtiger Aspekt der Kompetenzerweiterung in der mehrsprachigen komplexen Kompetenzaufgabe ist, sollen die dahinterliegenden Mechanismen hier kurz umrissen werden. Die von Meißner und später Reinfeld entwickelte Mehrsprachigkeitsdidaktik entsteht im Rahmen einer Diskussion um und als Alternative zum Englischunterricht und zur Förderung der LOTE (Languages Other Than English)-Sprachen. Sie ist aufgrund ihrer eingehenden Untersuchung des interlingualen Transfers und seiner unterschiedlichen Formen insbesondere innerhalb der gleichen Sprachfamilie und ihrer Nutzung für den schulischen Spracherwerb für diese Studie relevant. Es wird hier veranschaulicht, wie vielfältig und unterschiedlich Transfer sein kann, wie er zustande kommt und welchen Reichtum an Ressourcen er für das Sprachenlernen nutzbar macht.
Das LOTE-Konzept entspringt der romanistischen Sprachendidaktik und sieht bereits ab den ersten Schuljahren einen fächerübergreifenden Spracherwerb vor. Eine erste Theoretisierung erfolgt in einem Artikel aus dem Jahre 1995 (Meißner 1995), in welchem der interlinguale Transfer als Grundlage für jegliche Fremdsprachendidaktik erstmals postuliert und erste Didaktisierungsmöglichkeiten angedacht werden. Meißner postuliert für den Erwerb von nicht nur sprachübergreifenden, sondern auch von zwischensprachlichen kommunikativen Kompetenzen und Lernstrategien einen didaktischen Mehrsprachen-Monitor bzw. ein Mehrsprachenverarbeitungsmodell – ein Modell, das einen Erklärungsrahmen schafft für den Aufbau einer Spontangrammatik während multilingualer Rezeptionsvorgänge. Die dank der Spontangrammatik entstandenen Hypothesen über die Zielsprache(n) durchlaufen mehrere Stufen bis hin zur Bildung einer