Kompetenzentwicklung und Mehrsprachigkeit. Gisela MayrЧитать онлайн книгу.
daran, dass Mehrsprachigkeit ausschließlich auf der lexikalischen und manchmal grammatischer Ebene behandelt wird. Es wird versäumt, den notwendigen Folgeschritt zu unternehmen, nämlich von der lexiko-grammatischen Ebene auf die Ebene der Genres zu wechseln und die Mehrsprachigkeit in der Klasse in Zusammenhang zu bringen mit der intra- und transkulturellen lebensweltlichen Mehrsprachigkeit, die dem Individuum, der die Ebene der ausschließlich grammatischen oder lexikalischen Korrektheit überwindet und neue Bedeutungs- und Lebensräume eröffnet.
Diese Studie versteht sich daher nicht primär als Versuch, das Problem der migrationsbedingten Sprachenvielfalt auf pädagogisch-didaktischer Ebene durch die verstärkte Vermittlung von Sprachkompetenzen in der Bildungssprache zu lösen. Es handelt sich vielmehr um einen neuen Ansatz mit dem Ziel, die bislang ausgearbeiteten Formen der Mehrsprachigkeitsdidaktik durch ein Konzept des holistischen Sprachenlernens zu ergänzen und zu erweitern, das durch seine Ausrichtung neue, bislang nicht berücksichtigte Ressourcen des mehrsprachigen Lernens mobilisiert und dadurch u.a. auch neue Formen des Lernens (Savoir apprendre) im Unterricht ermöglicht. Die Modellierung einer MKK (Mehrsprachige Kommunikative Kompetenz) wird dabei zentrales Anliegen sein, da durch sie alle am Bildungsprozess Beteiligten teilhaben am Integrations- und Inklusionsprozess – jeder mit seiner ganz persönlichen (Sprach)-Biographie und seinen individuellen Voraussetzungen.
2.4.1 Inklusion und Sprachenvielfalt
Das Prinzip der Inklusion ist ein übergreifender Begriff, der alle Aspekte schulischen Lebens und des gesamten Bildungssystems umfasst. Daher steht es auch hier im Fokus; es soll aufgezeigt werden, wie plurilinguale Unterrichtspraktiken auf unterschiedlichen Ebenen Formen der Inklusion zulassen, indem Lernende durch ein mehrsprachiges Unterrichtsdesign einen besseren Umgang mit Sprachen und Mehrsprachigkeit erwerben und sich dadurch sprachlicher Hierarchien und deren Wirkung im Diskurs bewusst werden. Das führt zu einer veränderten Wahrnehmung des eigenen Sprachenrepertoires und zu einer gesteigerten Wachsamkeit gegenüber den kommunikativen Bedürfnissen der anderen.
Inklusion als Prinzip schulischen Handelns stellt die individuelle Förderung des Einzelnen in den Mittelpunkt und erteilt dem Leistungsprinzip als oberstes Gebot schulischen Handelns eine klare Absage. Laut Böttinger ist die Anerkennung jeglicher kultur-, sprach- und genderspezifischen Diversität sowie der gezielte und individualisierte Umgang mit geistiger und körperlicher Behinderung ein Mehrwert, der zu einem gerechteren, solidarischen und weniger selektionsorientierten Verständnis von Schule führen soll (; Hallet 2011: 7, 61; Böttinger 2016: 18). Jede Klasse setzt sich aus lauter Individuen zusammen, auf die Unterricht ausgerichtet sein sollte mit dem Ziel schulischer Teilhabe und sozialer Partizipation für alle.
In der systemtheoretischen Sozialforschung steht Inklusion dem Prinzip der Exklusion gegenüber (vgl. Luhmann 1995; Stichweh 2016). Das Prinzip der Inklusion greift, wenn Individuen in soziale Systeme und Subsysteme, wie z.B. die Schule, eingegliedert werden, indem sie aktive Teilhabe daran haben. Diese Teilhabe äußert sich im Klassenzimmer laut Stichweh ausschließlich durch kommunikative Interaktion (Stichweh 2016: 10). Bereits durch Beachtung, Nichtbeachtung oder Anrede des einzelnen Individuums treten Haltungen zutage, an denen Inklusion gelingen bzw. scheitern kann (ibid.).
In einem sprachlich heterogenen Klassenzimmer werden solche Haltungen durch die Miteinbeziehung oder Marginalisierung aller im Klassenzimmer vorhandenen Sprachen umso klarer. Soll im Unterricht Inklusion gelingen, bedarf es der aktiven Teilhabe aller Individuen und ihres gesamten sprachlichen Repertoires. Damit sind auch Dialekte und Soziolekte, Minderheiten- und Randsprachen sowie Herkunftssprachen gemeint. Um dem Individuum die Möglichkeit zu geben, seiner gesamten Persönlichkeit Ausdruck zu verleihen, bedarf es der Akzeptanz und Wertschätzung seines sprachlichen Reichtums. Heterogenität und insbesondere sprachliche Heterogenität dürfen nicht als Problem verstanden werden, sondern als Glücksfall und Bereicherung, welche die sprachliche und kulturelle Partizipation aller am Bildungssystem Beteiligten ermöglicht.
2.4.2 Curriculare Verankerung von Mehrsprachigkeit
Es sollen in der Folge zwei Ansätze zur mehrsprachigen curricularen schulischen Planung vorgestellt werden, die aufgrund ihrer Anlage für die vorliegende Studie von großer Relevanz sind, da auch diese einen Versuch darstellt, Mehrsprachigkeit curricular zu verankern. Zunächst wird auf Krumm/Reich eingegangen, der Spracherwerb und Mehrsprachigkeit als persönlichkeitsstiftend betrachtet und daher erstmals sprachbiographische Aspekte in ihrer Relevanz für den Unterricht anerkennt (Reich & Krumm 2013: 92). Anschließend wird auf Hufeisens „Gesamtsprachenkurrikulum“ eingegangen, ein Instrument für systematische mehrsprachige Schulplanung. Beide Ansätze beinhalten Kernaspekte der curricularen Verankerung von Mehrsprachigkeit wie er dieser Studie zugrunde liegt und bedürfen daher einer eingehenden Erläuterung.
Die curriculare Verankerung von Mehrsprachigkeit verfolgt zunächst das Ziel, sprachliche Bildung im Sinne von Mehrsprachigkeit zu erweitern. Das von Krumm/Reich ausgearbeitete Curriculum Mehrsprachigkeit ist ein erstes Instrument, mit dem Mehrsprachigkeit konkret im schulischen Alltag umgesetzt werden kann (Reich & Krumm 2013). Dabei steht hier die Erweiterung des traditionellen Sprachenunterrichts im Fokus. Dieser soll laut Krumm/Reich durch eine Reihe von Bereichen erweitert werden, die ein umfangreicheres Verständnis von Sprachenlernen implizieren (ibid.: 16f.). Dazu gehören die Berücksichtigung und Weiterentwicklung persönlicher Sprachenprofile, die Vermittlung eines facettenreicheren Bildes der Wirklichkeit und, damit einhergehend, Vielseitigkeit und globale Gültigkeit des Gelernten All dies ist eingebettet in ein Verständnis von Sprachenlernen, das die Persönlichkeitsentwicklung des Einzelnen in den Mittelpunkt stellt und den Lernprozess in der Persönlichkeit des Einzelnen verortet (ibid.: 18f.). Daher ist es wichtig, einen Bogen zwischen der Sprachbiographie jedes einzelnen und dem Unterrichtsvorhaben zu spannen und beides konstruktiv in den Unterricht einzubauen. Es handelt sich bei diesem Dokument um Rahmenvorgaben für die Vernetzung und Erweiterung des Sprachenunterrichtes im Sinne einer mehrsprachigkeitsdidaktischen Ausrichtung (Reich & Krumm 2013: 2ff.), die sich am Prinzip eines inklusiven schulischen Handelns orientiert.
Das Gesamtsprachencurriculum von Hufeisen geht einen Schritt weiter, es versteht sich als konzeptionelle Grundlage zur curricularen Umsetzung von Mehrsprachigkeit im Unterricht (Hufeisen 2011a/b, 2015, 2016). Das Modell/der Prototyp gibt genaue Anweisungen zur Fächer- und Stundenverteilung, zum „planvolle[n], systematische[n] und strukturierte[n] Einbezug von mehr Sprachen, mehr Sprache in allen Fächern und über alle Fächer hinweg“ (Allgäuer-Hackl et al. 2015: 9). Merkmale dieses Prototyps sind laut Hufeisen (Hufeisen 2011a: 10):
1 | Unterricht in der Umgebungssprache als L1 |
2 | Unterricht in modernen oder klassischen Fremdsprachen, aber auch Herkunfts- und Minderheitensprachen. |
3 | Intensive DaZ-Förderung für SchülerInnen, für die Deutsch L2 ist |
4 | Herkunftssprachenunterricht |
5 | CLIL für den Sachfachunterricht |
6 | Jahrgangsübergreifender Unterricht von Fächern und Sprachen |
7 | Projektunterricht |
Tab. 2.3.
Ziel ist dabei die Vernetzung von Sprach- und Sachfächern, um die Lernzeit für beides durch sprachübergreifendes Lernen effizienter zu gestalten (Hufeisen 2016: 170). Selbst Hufeisen gesteht ein, dass eine derart radikale Veränderung des schulischen Systems nur auf der Mikroebene der einzelnen Entscheidungsträger vollzogen und nicht von oben herab anbefohlen werden kann. Hufeisen räumt