Deutsches Sagenbuch - 999 Deutsche Sagen. Ludwig BechsteinЧитать онлайн книгу.
War ein Pferd krank und konnte seinen Dienst nicht
tun, und man rief Flerus, so kam Flerus als Pferd und
arbeitete für drei Pferde. Den Mägden erleichterte er
ihre Arbeit auf alle Weise und verlangte nichts für
alle Dienste, als daß ihm abends ein wenig Milch und
Zucker hingestellt wurde. Dieser gute und willige
Hülfsgeist wurde durch den einfältigen Vorwitz von
ein paar jungen leichtfertigen Dienstmägden auf
immer von dem Hause getrieben. Sie gedachten den
Neck zu necken, es bekam aber schlecht. Eines
Abends riefen sie: Flerus! Flerus kam, da schoben sie
ihm seine Milch hin, hatten aber statt Zuckers Knoblauch
in dieselbe getan. Da schüttelte sich Flerus,
warf ihnen die Schale nach dem Kopf und rief zornige
Worte:
Milch und Lauch!
Flerus zieht weg,
Und das Glück auch!
und verschwand. Nie sah und hörte man ihn wieder
auf jenem Hofe, und von Stund an ging dort alles den
Krebsgang, bis andere Besitzer den Hof bekamen, der
noch bis heute der Flerushof heißt.
Nicht alle Necker sind so gut wie Flerus, sie ziehen
gern Menschen in das Wasser, mischen sich in Tänze
der Uferbewohner und tanzen die Jungfrauen in die
Flut.
153. Die Meerminnen
Meerminnen sind Dämonenwesen der See, weiblichen
Geschlechts, sie können schön singen und auch fliegen.
Schon die Alten kannten sie und nannten sie Sirenen.
Sie sind den Nixen verwandt, haben fischgrätige
Zähne und meergrüne Haare. Oft schon sind die
Meerminnen Unheilverkünderinnen geworden, doch
konnten sie auch Glück bringen.
Zur Zeit, da die Antwerpner auch noch Schiffe zum
Walfischfang ausrüsteten, so geschah es nicht selten,
daß, wenn noch weit und breit kein Wal sichtbar war,
eine Meerminne mit halbem Leibe aus dem Wasser
tauchte, gegen das Schiff heranschwamm und sang:
Scheppers, werpt de Tonnekens uit,
De walvisch zal gaen kommen:
Schiffer, werft die Tönnchen aus,
Der Walfisch soll entgegenkommen.
Da taten die Schiffer nach der Meerminnen Geheiß,
warfen die Tönnchen aus, und nicht lange dauerte es,
so ließ sich ein Walfisch sehen, der dann stets sicher
erlegt wurde. Einst, schon sehr lange her, geschah es,
daß im Hafen vor Muiden an der Südersee, ohnweit
Amsterdam, eine Meerminne schwimmend erblickt
wurde. Diese Meerminne sang eine Prophezeiung:
Muiden sol Muiden blyven,
Muiden sol novit beklyven:
Muiden soll Muiden bleiben,
Muiden soll niemals bekleiben.
Und es geschah also. Muiden, ein Hafenort, günstigst
gelegen, blieb ein Flecken, und das nachbarliche Amsterdam
wurde eine Weltstadt.
In der Nähe von Dord (Dordrecht) liegt nahe der
Landstraße ein großes stilles Wasser, daraus ragt ein
Kirchturm hoch und einsam empor. Da hat vorzeiten
die reiche und starkbevölkerte Stadt Zevenbergen gestanden.
Ihr Reichtum machte die Einwohner übermütig,
sie achteten des Goldes und Silbers nicht mehr,
als wenn es Kupfer und Blei wäre; alle Schlösser und
Riegel an den Türen, alle Beschläge an Fenstern, alle
Nägel mußten von Gold oder Silber sein, so auch
alles Tafel- und Küchengeschirr, so unbeschreiblich
war der Reichtum. In die Kirche, die Sint Lobbetchen
hieß (St. Elisabeth), ging niemand mehr, ihr Dach war
auch nur mit Ziegeln gedeckt, die Dächer der Reichen
aber glänzten wie Feuer, denn sie waren mit Goldblech
überzogen.
Da hob sich aus dem breiten Gewässer am Biesbosch
eine Meerminne, die flog über Zevenbergen
und sang mit einer kläglichen Weise:
Zevenbergen sol vergan,
En Lobbetjens Torn sol blyven staen.
Diesen Sang hörten die Einwohner gar wohl und
sahen das Zeichen, achteten aber der Warnung nicht,
sie blieben, wie sie waren, und lebten fort, wie es
ihnen gefiel, und da ließ es Gott geschehen, daß der
Meerminne Prophezeiung sich erfüllte. Eine Sturmnacht
kam, endloser Donner rollte über Zevenbergen
hin, und die Flut kam, und die Stadt versank, und nur
die Kirche blieb stehen, wie die Meerminne gesungen
hatte, und weit und breit stand das Wasser da, wo die
Stadt gestanden. Fischer haben bisweilen in der Tiefe
die goldenen Dächer schimmern sehen, da wäre noch
ein großer Reichtum zu holen, aber keiner wagt sich
in die Tiefe und in die Stadt hinab, die der Fluch des
Himmels getroffen.
154. Geister in Friesland
Schon zu Kaiser Lothars Zeiten gab es in Friesland
viele Geister und Gespenster. Eine Sorte davon wohnte
in Höhlen, wie die deutschen Wichtlein. Die Männlein
hießen weiße Juffers, die waren nicht eben gutartig,
vielmehr recht tückeboldig, die Weiblein aber
hießen weiße Frauen, die waren besser, standen Kindbetterinnen
bei, leiteten Verirrte auf rechten Weg, halfen
Arbeit verrichten, besonders recht mühevolle. Sie
wohnten gern in Hügeln oder in Gruben, die unbesucht
waren, häufig ihrer drei beisammen, auch in
alten Hünenbetten. Wer nachts an diese Hügel oder in
diese Gruben trat oder auf so ein altes Hünengrab sich
setzte, der konnte sondere und wunderbare Dinge vernehmen
und viel von alter Zeit erfahren. Es war ein
Sänger im Friesenlande, der hieß Bernlef und war
blind, der hat viel gesungen von des Landes erster Art
und des freien Volkes der Friesen Ankunft und Ursprung,
den haben die guten Geister gelehrt und die
Kunden alter Zeit auf seine Lippen gelegt.