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Der Intellektuelle, der klug genug war, sich nicht dafür zu halten. Joachim KathЧитать онлайн книгу.

Der Intellektuelle, der klug genug war, sich nicht dafür zu halten - Joachim Kath


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unamerikanische Gediegenheit. Das Menü war superb. Vorspeise: Gemüsesülze mit Gänseleber. Zwischengericht: Spargel mit Entenleberklößchen. Hauptgericht: Zander auf Kohlrabi. Dessert: Kirschtörtchen mit Mandeleis. Ein Chablis zum Fisch und zum Schluss ein Espresso. Aaron Schlesinger kannte sich nicht nur technisch und kulinarisch aus, sondern hatte auch für Jonathan einen Gegner parat, der in seiner besten Zeit auf Rasen ein As war. 36-mal hatte der Mann auf dem Centre Court in Wimbledon gespielt und jetzt mit 80 Jahren wirkte Gardnar Mulloy immer noch ziemlich fit. Zu gut jedenfalls für Jonathan.

      „Haben Sie gemerkt, dass der Alte überhaupt nicht gelaufen ist?“ stöhnte er hinterher auf der Rückfahrt. „Der stand einfach immer richtig, weil er schon ahnte, wo ich hinschlage. Überhaupt keine Hektik. Der hätte auch mit verbundenen Augen gewonnen. Und dann dieser flache Rückhandslice, bei dem der Ball praktisch nur noch auf dem Rasen entlang rutscht. Das war allererste Sahne!“

      „Mann – und die Tricks, die der auf Lager hatte“, rief ich bewundernd aus.

      „Jeden, aber auch wirklich jeden Schlag hat der angetäuscht und variiert, alles grundsätzlich angeschnittene Bälle, sogar mit Seitendrall, aus dem Handgelenk, ansatzlos“, äußerste sich Jonathan anerkennend.

      „Das war kreatives Tennis“, stellte ich fest. „übrigens der andere Weißhaarige, den ich heute kennengelernt habe, der hat mich auch fasziniert. Eine tolle Persönlichkeit!“

      „Ja, der Aaron, das ist auch ein Kreativer, deshalb kann der so bescheiden auftreten. Keine Show. Überhaupt nicht aggressiv. Bei dem spürt man auch diese professionelle Lockerheit, die man selbst gerne hätte. Der Aaron war mein Lehrer an der Uni, Gastprofessor für kreatives Denken. Der hat die Ums-Eck-Denkmethode erfunden und publiziert.“

      „Die auf was basiert?“ nutzte ich sofort die Chance zur Frage.

      „Die auf der einfachen Erkenntnis gründet, dass beim Denken Flexibilität ein viel wichtigeres Prinzip als Starrheit ist und folglich die Gerade, die in der Natur bekanntlich nicht vorkommt, für das Denken weniger taugt als die Kurve. Deshalb lehrte er, ums Eck zu denken sei die natürlichste Sache der Welt, weil nachweisbar natürliche Bewegungen und Entwicklungen Wellenbewegungen sind. Der Flügelschlag des Vogels läuft ebenso in Wellenbewegungen ab wie das Wachstum eines Kindes. Es gibt zahlreiche Beispiele: Das Wetter, die Jahreszeiten, die Gezeiten. Aber auch die Musik, die Schwingungen des Schalls, unser ganzes Leben. Weder wachsen wir kontinuierlich bis zu unserer vollen Größe, noch altern wir stetig. Selbst in der wohl epochalsten aller wissenschaftlichen Erkenntnisse, in Albert Einsteins Relativitätstheorie, finden wir Hinweise gegen die Geometrie Euklids, nämlich das Vorhandensein von Gravitationsfeldern bedingt eine Krümmung des physikalischen Raums. Sogar die Wirtschaft richtet sich nach dem uralten Berg-und-Tal-Prinzip. Auf die Auf die Konjunktur mit steigenden Wachstumsraten folgt stets die Rezession mit einer Abkühlung. Auf das Leben folgt das Sterben.“

      „Zyklen sind nichts Neues!“ warf ich ein.

      „Selbst an unserem Körper ist nichts gerade. Nicht umsonst sprechen wir von Gehirnwindungen, Darmschlingen, Augäpfeln, Schulterachseln, Ellbogen, Armbeugen, Mundwinkeln, Lungenflügeln. Von herzförmig, nierenförmig und auch Busen und Po sind eher rund als gerade.“

      „Ausnahmen bestätigen die Regel“, konterte ich routiniert.

      „Das Ums-Eck-Denken ist die zeitweilige Befreiung des Denkbaren von den engen Grenzen des Machbaren. Ganz im Gegensatz zum mathematisch-grammatikalischen Denken ist hier nichts unmöglich. Es gibt kein RICHTIG oder FALSCH, sondern nur ein Ergebnis oder kein Ergebnis. Aber auch die Ergebnisse sind nur vorläufig und nicht endgültig. Das sehr ordentliche, klinische Denken, das uns meistens in der Schule beigebracht wird, dieses antiseptische Denken, auch Kästchendenken genannt, führt in erster Linie zur Vervielfältigung von etwas Vorhandenem, also zur Verbreitung von Basiswissen. In den Schulen und Universitäten wird, jedenfalls nach Aarons These und ich schließe mich der an, überwiegend Gedächtnisleistung prämiert. Auf manchen Forschungsgebieten meint er, würde bei genauer Analyse erkennbar, dass eine Objektivierung nicht im Vordergrund stände.

      Außerdem behauptet er, und verdammt noch mal, der Kerl hat irgendwie recht, wir würden generell zu linear von uns ausgehen. Ich erinnere mich noch genau, es muss so ungefähr dreißig Jahre her sein, an das plastische Beispiel, das er in einer Vorlesung brachte. Nach seiner Meinung stimmen unsere Vorstellungen von der Welt grundsätzlich mit der Welt nicht überein. Nehmen wir nur einmal eine Welt, die wir alle zu kennen meinen, beispielsweise die Hühnerwelt. Die stellen wir uns gerne als Omas lustig pickende Hühnerschar samt munter krähendem Hahn auf dem Mist vor, wie wir sie aus unserer Kindheit, wenn wir auf dem Lande aufgewachsen sind, oder sonst aus Bilderbüchern kennen. Und weil wir annehmen, dass für uns selbst Bodenhaltung besser erträglich wäre als Käfighaltung, kaufen wir lieber Eier von sogenannten freilaufenden Hühnern. In Wirklichkeit ist beides, Käfig und Boden, Intensivhaltung in fensterlosen Hallen und das eine so inhuman wie das andere.“

      „Was war denn zuerst da, die Henne oder das Ei?“ wollte ich scherzhaft wissen.

      Jonathan Seyberg ignorierte die kleine Boshaftigkeit, ihn aufs Glatteis zu führen und antwortete kühl: „Das Ei natürlich, biologisch und evolutionstheoretisch betrachtet, gibt es daran keinen Zweifel!“

      Ich bewunderte seine Selbstsicherheit und hasste meine Albernheit. Das Niveau eines Gesprächs zu drücken, war mir peinlich. Ihn jedoch schien es nichts auszumachen. „Durch die direkte Übertragung der Kästchen aus dem Matheheft in die Landschaft ist es zu dieser unmenschlichen Architektur gekommen. Schade, dass sich die Landschaft nicht wie ein Heft zuklappen lässt“, sagte er sichtlich erregt. Wir fuhren auf dem Venetian Causeway, dessen Brücken die künstlichen Inseln Belle, Rivo Alto, Dilido, San Marino und San Marco verbinden, in Richtung City. Die Skyline von Miami und links die Ozeandampfer im größten Kreuzfahrerhafen der Welt, machten die Dominanz der Technik augenfällig.

      „Wer sich für den Fortschritt begeistert, kann bei diesem Anblick nur jubeln, das ist das moderne Amerika, gleißend weiße Schiffe vor Spiegelglasfassaden. Doch wie es dahinter aussieht, hinter den Kulissen, nur ein paar Hundert Meter weiter, Sex, Drugs and Crime, bitterste Armut, keine Hoffnung, ein verrottetes Chaos, das nenne ich Kontrast. Die wichtigste Frage ist: Wer sieht die Probleme und findet die Lösungen?“

      „Ist es nicht in allen Hafenstädten der Welt ähnlich?“ fragte ich vorsichtig.

      „Der gute alte Aaron Schlesinger hat damals schon gewusst, dass die Politiker immer nur Aufgaben angehen, deren Lösungen sie zu kennen meinen. Meistens irren sie sich auch darin, gewinnen aber Zeit und oft die nächste Wahl. Bei jedem Konflikt-Szenario gibt es grundsätzlich ein Problem, ein Hindernis, das einen Engpass darstellt, der erkannt und überwunden werden muss, um zu einer Lösung zu gelangen. Das war und ist typisch für Aaron, ich möchte fast vermuten, eine jüdische Denktradition, wie er gerne argumentiert. Er behauptet, ohne Hindernisse gäbe es keine Probleme, folglich wäre es gut, dass es Hindernisse gibt. Denn wenn wir keine Probleme hätten, brauchten wir keine Lösungen. Darin steckt eine Menge Ähnlichkeit mit dem berühmten Witz, in dem sich zwei Juden auf einem Bahnhof treffen und der eine den anderen nach seinem Reiseziel fragt. Und der antwortet, er führe nach Lodz. Denn es sind polnische Juden. Da beschimpft der andere ihn, diese Antwort sei eine Gemeinheit, weil er zufällig erfahren habe, dass er tatsächlich nach Lodz wolle, warum er ihn also belüge.“

      „Die Analogie verstehe ich nicht!“ sagte ich.

      „Ich auch nicht!“ lachte der Professor, um dann gleich wieder ernsthaft zu werden, „es hat natürlich schon etwas mit dem Ums-Eck-denken zutun. Doch was ich damit auch meine: Wenn es eine Ausweglosigkeit gibt, wird der Engpass zur Mauer, das Hindernis wächst und der Engpass wird immer enger. Schließlich bleibt nur Resignation oder Aggression. Beides hat dieselbe Ursache, denselben Auslöser. Der Mensch ist bequem. Er springt nicht über Hindernisse, wenn er nicht muss. Er sucht nicht den Konflikt, wenn er einen anderen Ausweg weiß. Gewalt ist immer ein Zeichen von Verzweiflung.“

      „Ein Tennis-Match ist auch ein Konflikt!“ sagte ich.

      „Genau“, stimmte Jonathan überraschend zu, „es gibt kein Unentschieden. Jedes


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