DER ELEGANTE MR. EVANS. Edgar WallaceЧитать онлайн книгу.
Gewohnheiten der kriminellen Kreise«, sagte er, »sind für mich böhmische Dörfer, wie Sokrates schon zu Julius Cäsar sagte*, dem weltbekannten Italiener. Sie werden eingesperrt, kommen wieder raus, kein Mensch weiß es. Solly ist für mich so weit weg wie der berühmte afrikanische* Fluss, der Amazonas, von Stanley im Jahre 1743 entdeckt*. Aber man kann auch zu weit entfernt sein und ‚snouts’ sind nun einmal ‚snouts’...«
»Snouts?«, sagte der Müller, völlig verwirrt, »was ist denn ein snout?«
»Das ist ein Ausdruck, der in der unteren Klasse verwendet wird, und ich kann sehr gut verstehen, dass Sie ihn noch nie gehört haben«, sagte Evans höflich.
»Wenn du mit diesem vulgären Ausdruck eine Person meinst, welche die Polizei mit Informationen über kriminelle Aktivitäten versorgt«, sagte der Müller, der viel besser als Evans die Funktionen eines V-Mannes kannte, »dann muss ich dir sagen, dass man Solly nach klarer Beweislage eingesperrt hat. Bist du arg erkältet, Evans?«
Dies sagte er, weil Evans schon wieder schnaufen musste.
»Als Turfratgeber und Englands führende Autorität in Sportangelegenheiten«, sagte Evans, »bin ich vollauf mit mir selbst beschäftigt, ohne mich um anderer Leute Geschäfte kümmern zu können. Ich werde nichts sagen gegen Ginger Vennett...«
Der Müller hielt an und fixierte seinen Begleiter mit einem seltsamen Blick. »Schlage dir das aus dem Kopf, dass Ginger ein snout sein soll«, sagte er. »Er ist ein hart arbeitender junger Mann – arbeitet mehr als sein Vermieter.«
»Oder seine Vermieterin«, vermutete Evans und dieses Mal war sein Schnaufen furchtbar laut.
»Ich weiß nichts über seine Vermieterin, außer dass sie gut aussieht, hart arbeitet und eigentlich für Lee zu gut ist«, sagte der Müller und Educated Evans lachte dumpf.
»Genau wie Cleopatra, deren berühmte Nadel wir heute noch bewundern können«, sagte er. »Oder so wie Lewdcreature Burgia*, die berühmte Frau von Heinrich VIII.*, die ihn vergiften wollte, indem sie ihm kochendes Blei in das Ohr einflösste*. Oder wie B.(Bloody; d.Ü.) Mary, die die unschuldigen Prinzen in dem berühmten Tower von London ermordete* im Jahre...«
»Wir wollen jetzt nicht alte Geschichten aufrühren«, bat der Müller. »Hast du in letzter Zeit etwas von Lee gesehen? Man sagt mir, er sei wieder ins Pferdemetier eingestiegen?«
Das war eine tödliche Beleidigung, die er Educated Evans damit antat, und niemand wusste das besser als der Müller selbst. Er war tatsächlich dabei, Evans zum Schwatzen zu überreden!
»Sie überraschen mich, Mr. Challoner«, sagte Evans, zutiefst verletzt, und der Müller lachte und ging weiter.
Jedermann liebte »Modder« Lee – den man so nannte, weil er im betrunkenen Zustand die Angewohnheit hatte, die Schlacht am Modder-Fluss (an der er teilgenommen hatte) zu beschreiben. Dabei stellte er die Frontlinie dar, indem er seinen Finger in das nächstbeste Bierglas steckte und dann die Flusslinie auf die Theke malte. Er war ein guter Kerl, ein ruhiger, unauffälliger Bürger, ein mehr als treuer Ehemann und Vater zu der ganz schön zänkischen Xanthippe, die er in einem Augenblick geistiger Umnachtung geheiratet hatte.
Seine einzige Schwäche waren Pferdegeschirre. Der Anblick eines solchen Geschirrs setzte sein Blut in Wallung und ließ ihn allerhand ungesetzliche Dinge tun. Er hatte Karren gestohlen, war mit den Pferden davongegangen und hatte sie an Ort und Stelle genau vor der Nase ihrer Besitzer verkauft, aber das Geschirr war seine Spezialität.
»Es ist ein Hobby«, erzählte er seinem Untermieter, einem großen, gut aussehenden und hitzköpfigen jungen Mann, der für seinen Lebensunterhalt nichts weiter tat, als auf ein paar unsichere Pferde zu wetten und dem Buchmacher nachzulaufen. Er arbeitete normalerweise für eine Firma von Handelsagenten im West End, bis eines Tages unrentable Papiere auftauchten und man entdeckte, dass er auf telegraphischem Wege bei der ehrenwerten italienischen Gesellschaft schnelle Ergebnisse erzielte.
Er war einmal ein Kunde von Educated Evans gewesen; aber nach einem Streit, ob er einen Tipp (die Wette zu 5 sh.) erhalten hatte oder nicht, hatte Educated Evans ihn aus seiner Kundenliste gestrichen. Und dies gab Ginger Anlass zu großem Ärger, denn er setzte immer noch ein geradezu unnatürliches Vertrauen in die Voraussicht des gebildeten Mannes.
»Ich weiß mehr über Pferdegeschirre«, sagte Modder Lee stolz, »als irgendjemand anders in dem Metier. Ich kann die High Street entlanggehen und den Preis von jedem Set nennen, das ich finde, und ich wette, ich bin keine fünf Shilling davon entfernt.«
Eines Nachts brach man in den Stall von Holloway’s Versorgungslagern ein und danach fehlte ein Satz Pony-Geschirre. Zwei Nächte später kam ein dringender Anruf aus Lifton Mews. Ein Satz Gurtwerk für Kutschen, persönliches Eigentum von Lord Lifton, war verschwunden....
Der Müller stellte einige separate Nachforschungen an, traf (nach Absprache und in einer dunklen, kleinen Seitenstraße) einen bestimmten Herrn und stattete der Little Stibbington Street Nr. 930 noch um Mitternacht einen Besuch ab. Dies tat der Müller nicht, um sich nach Lee’s Gesundheit zu erkundigen, auch war es kein Freundschaftsbesuch im engsten Sinn des Wortes. Mrs. Lee war bereits im Bett und öffnete die Tür, bekleidet mit einem Hemd, einem Schal, einer Schürze und sie machte dazu ein sehr überraschtes Gesicht. Etwas später hörten sich ihre Beteuerungen und Schwüre wie die Sprache eines Psalmisten an – denn sie war vorgeblich eine echte und wahre Ehefrau.
»Und wenn ich niemals mehr von dieser Türschwelle wegkomme, Mr. Miller, und ich bin eine gottesfürchtige Frau, die schon viele Jahre zur Presbyter Kirche in der Stibbington Street geht, und wenn ich in dieser Minute tot umfalle, mein guter alter Mann hat wegen seines Rheumas dieses Haus seit drei Tagen nicht verlassen. Ohne zu lügen, er kann sich nicht aus dem Bett bewegen, und Sie wissen doch, Mr. Miller, ich habe Sie noch nie belogen, stimmt’s? Antworten Sie mir – ja oder nein?«
»Lassen Sie mich mit Modder reden«, antwortete der Müller geduldig.
»Der ist so krank, der würde Sie gar nicht erkennen, Mr. Miller«, blieb sie hartnäckig und erregt (bei der Nachbarschaft, die sicherlich zuhörte, wäre sie unten durch gewesen, hätte man ihr diese dem Augenblick angepasste Erregung nicht anmerken können). »Ich hab’ es schon tagelang nicht mehr geschafft, ihm seine Schuhe anzuziehen. Er ist im Delirium, so wahr Gott mein Richter ist! Er kennt niemanden und dazu kommt – er hat die Masern oder so was – und Sie mit Frau und Familie!«
»Ich habe die Masern schon gehabt, aber noch keine Frau oder Familie«, erwiderte der Müller gutmütig.
»Er wird Sie nicht erkennen.« Zögernd öffnete die Tür sich ein wenig.
»Vorsicht, wo Sie gehen – da steht ein Kinderwagen im Durchgang, und der junge Mieter von oben hat da immer etwas Wäsche zum Trocknen hängen...«
Nasse und halb getrocknete Hemden flatterten dem Detektiv durchs Gesicht, als er sich in dem schwachen Licht einer kleinen Öllampe seinen Weg zu dem Hinterzimmer bahnte.
Beim Eintreten hörte er ein tiefes Stöhnen. Und da lag Lee in seinem Bett, mit einem geistesabwesenden, wilden Blick.
»Er erkennt Sie nicht«, sagte Mrs. Lee und wischte sich mit ihrer Schürze das Gesicht ab. Wie zur Unterstützung ihrer Behauptung öffnete Modder den Mund und sprach mit schwacher Stimme. »Bist du es, liebe Mutter?«, stammelte er. »Oder sind es schon die Engel?«
»Das macht er schon seit Tagen so«, sagte Mrs. Lee mit großer Befriedigung.
»Ich höre so eine schöne Musik«, sagte der phantasierende Modder. »Es hört sich an wie eine Harfe!«
»Eine walisische Harfe«, sagte der Müller verächtlich. »Jetzt komm aus deiner Trance heraus, Lee, und folge mir auf die Wache – der Inspektor will mit dir reden.«
Mrs. Lee zitterte.
»Wollen Sie wirklich einen Sterbenden aus seinem Bett holen?«, fragte sie bitter. »Wollen Sie nachlesen, wie Sie im ‚John Bull’ bloßgestellt werden?«
»Gott bewahre!«, sagte der Müller und zog mit einer