Der Meerkönig. Balduin MöllhausenЧитать онлайн книгу.
Diener entfernte sich mit einer Verbeugung, und mit einer noch tieferen Verbeugung erschien Herr Seim auf der Schwelle.
Er war noch immer derselbe, wie am Vormittage, nur ein Paar weiße Handschuhe und eine weiße Weste hatte er seinem gewählten Anzuge beigefügt; vielleicht auch, daß die grauen Haare sich noch etwas fester an den runden Schädel anschmiegten, das Lockenkränzchen über dem Rockkragen etwas neckischer nach oben wies und der biedere Ausdruck auf dem bescheiden lächelnden Antlitz wo möglich noch eindringlicher geworden war. Auch in seinen Bewegungen entwickelte er eine erhöhte Anmuth, was wohl mit darin seinen Grund fand, daß die dicken Teppiche eine gewisse Federkraft besaßen und den ungeübten Fuß beständig zu vorsichtigem Einherschreiten mahnten.
»Der Herr Graf waren so gnädig, mich zu sich zu entbieten,« begann Herr Seim, sobald er bis auf drei Schritte vor dem Officier angekommen war, seine Worte mit einer neuen Verbeugung begleitend.
»Ganz recht, Herr Seim,« entgegnete der Graf mit einer leichten Verneigung seines Hauptes, »ich wollte Sie sprechen, ja, aber setzen Sie sich, es ist mir bequemer.«
Herr Seim leistete der an ihn gerichteten Aufforderung sehr anmuthig Folge, wobei er mancherlei von »hoher Ehre« und »tiefster Beschämung« murmelte, und der Graf fuhr fort:
»Daß es mich unangenehm überraschte, als ich heute in der Zeitung die Geschichte von dem Entweichen einer Ihrer Pflegebefohlenen las und aus der Beschreibung sogleich das bewußte Mädchen heraus erkannte, brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen.«
»Gewiß nicht, Herr Graf; ich glaube Dero Gefühle und Empfindungen Betreffs dieser Sache nicht zu unterschätzen.«
»Wohlan denn, mein werther Herr Seim, ich muß es Ihnen gegenüber einräumen, daß mir viel daran liegt, das Kind wieder unter Ihrer treuen Obhut zu wissen.«
»Nicht Geld noch Mühe sollen gespart werden, diesen Wunsch in Erfüllung zu bringen.«
»Gut, gut, ich bin gern bereit, Ihnen alle Kosten zu vergüten, und da ich mich sehr für das Kind interessire, weil - nun, Sie wissen ja - weil mir sein Gesicht einst auf der Straße auffiel ...«
»Weil das kleine, verkommene Geschöpf dem Herrn Grafen einst auf der Straße auffiel,« wagte Herr Seim den verlegen zur Seite schauenden Grafen ausdrucksvoll zu unterbrechen.
»Ganz richtig,« fuhr dieser darauf wieder fort; »ich sehe, Herr Seim, Sie verstehen mich vollkommen. Ich interessire mich also für das Kind und bin mit ganzer Seele bei dem Versuche, das verdorbene, kleine Geschöpf zu retten und der menschlichen Gesellschaft zu erhalten. Ich befürchte zwar, daß meine Geldopfer und Ihre Mühe nutzlos vergeudet sind ...«
»Vollständig nutzlos,« schaltete der Vorsteher mit entschiedenem Wesen und verbindlichem Lächeln ein.
»Das soll mich indessen nicht hindern, noch ein Stück Geld daran zu wenden,« erklärte der Graf weiter, »um mir später sagen zu dürfen, daß ich Alles aufbot, das Kind vor dem Corrections- oder Arbeitshause zu bewahren. Also, Herr Seim, das unglückliche Geschöpf zeigt wenig Anlage zu einem rechtschaffenen Lebenswandel?«
»Nicht die geringste, Herr Graf.«
»So daß Jeder ihm gern aus dem Wege geht?«
»Daß Jeder es flieht, wie die Sünde.«
»Und es endlich seinen dauernden Aufenthalt unter der strengen Zucht eines Arbeitshauses findet?«
»Wenn nicht gar in einem Staatsgefängniß.«
»Das wäre allerdings sehr zu bedauern,« bemerkte der Graf zögernd, und sein verlegener Blick streifte den Vorhang, hinter welchem seine Schwester lauschte; »ja, das wäre zu bedauern,« wiederholte er noch einmal, »aber das dürfte seiner eigenen Neigung zum Bösen zugeschrieben werden.«
»Nur seiner eigenen Schuld,« bekräftigte Herr Seim, das Kinn einige Male sanft an der weißen Binde reihend und demnächst den Hals mit dem Ausdrucke eines reinen, von keinem übeln Hauche getrübten Gewissens etwa um einen Zoll verlängernd; »es ist in der That sehr zu bedauern, gnädigster Herr, doch was läßt sich Anderes von einem elfjährigen Mädchen erwarten, welches sich nicht mehr damit begnügt, seinen Gespielinnen Kleinigkeiten zu entwenden, sondern sogar die Gelegenheit wahrnimmt, die Hand nach den Kassenbeständen der Anstalt auszustrecken?«
»Das hat es gethan?« fragte der Graf hastig, doch fügte er ernster hinzu: »Es ist merkwürdig, so jung, und doch schon so tief gesunken; so tief gesunken, trotz Ihrer gewissenhaften Beaufsichtigung, die Ihnen nicht unbelohnt bleiben wird. Aber wenn das Mädchen wieder zurückgebracht wird, was haben wir dann von Ihnen zu erwarten und welches Verfahren werden Sie fernerhin gegen dasselbe beobachten?«
»Nun, Herr Graf, es steht mir nur ein Weg offen, nämlich der, den kleinen, unverbesserlichen Dieb und Vagabunden von den übrigen Insassen unserer Anstalt getrennt zu halten und zu versuchen, ob nicht dennoch mit unnachsichtlicher Strenge Etwas bei ihm auszurichten ist. Letzteres muß ich zwar entschieden bezweifeln, indem da, wo das Ehrgefühl erst vollständig erstickt ist, eine Umkehr zum Guten nicht denkbar; aber gewissenhaft will ich über das unglückliche Kind wachen und es sogar bis an die Thür des Correctionshauses begleiten.«
»Wo mein Interesse für dasselbe selbstverständlich sein Ende erreicht,« fügte der Graf hinzu, indem er nachdenklich mit dem Kopfe nickte; »jedenfalls will ich mich dann noch besonders erkenntlich für Ihre Mühewaltung zeigen und die ganze Geschichte zu einem befriedigenden Abschlusse bringen.«
»Das heißt, wenn das unglückliche Geschöpf überhaupt noch Mühewaltungen verursacht,« bemerkte Herr Seim, einen frommen Blick zum Himmel sendend.
»Sie meinen doch nicht ...?« fragte der Graf, sich leicht entfärbend; dann stockte er plötzlich.
In Herrn Seim's Augen wurde trotz des wehmüthigen Lächelns ein gewisser lauernder und beobachtender Ausdruck sichtbar.
»Es war ein schreckliches Wetter, Herr Graf,« begann er sodann ernst und feierlich, »und wenn die Vorsehung bestimmt hatte, daß das Kind im Schnee seinen Untergang finden sollte, so konnten menschliche Anstrengungen es nicht retten. Wir haben, dem Himmel sei Dank, das tröstliche Bewußtsein, das Unsrige nach besten Kräften gethan zu haben, und von Seiten der Beschützer der Anstalt wird bei Gelegenheit der Aufnahme des Protokolls über den betrübenden Vorfall gewiß der so überaus liebevollen Fürsorge des Herrn Grafen und seines Wohlthätigkeitssinnes gebührender Maßen und mit dem Ausdrucke innigster Dankbarkeit gedacht werden.«
»Ja, ja, Niemand kann Schuld oder Interesse an dem frühzeitigen Ende des Kindes gehabt haben,« versetzte der Graf zerstreut; »wir versuchten Alles - aber wie war es doch, Herr Seim, nicht wahr, das Mädchen wurde von einer unbekannten Frau heimlicher Weise in einem Korbe bei Ihnen zurückgelassen? Ich meine nur - für den Fall, daß ich selbst gelegentlich Betreffs dieser Sache befragt würde.«
»Den Herrn Grafen trügt sein Gedächtniß nicht,« lautete des Vorstehers zuvorkommende Antwort; »das Kind war damals, also vor neun Jahren, erst ein zweijähriges, verkümmertes, kaum menschenähnliches Wesen.«
»Gut, gut, ich entsinne mich genau; ich sah es später auf der Straße, fand Wohlgefallen an seinen hübschen Augen, ließ ihm, anfänglich aus Laune, mancherlei zufließen, bis sich die Laune in rege Theilnahme und zuletzt in eigensinniges Beharren auf dem einmal gefaßten Entschluß verwandelte.«
»Sehr wohl, Herr Graf, so verhielt sich die Sache,« entgegnete Herr Seim mit einem halb vornehmen, halb unterthänigen Schmunzeln, »und in Uebereinstimmung damit ist auch das Buch über den namenlosen Findling geführt worden.
Der Graf, offenbar zufriedengestellt, wußte nichts zu antworten, denn nachdem die Geschäfte beendigt waren, gab es ja nichts mehr in der Welt, worüber er noch mit dem Waisenhaus-Vorsteher hätte sprechen mögen. Er streckte daher seine Füße lang von sich und begann, mit den Sporen dem Neufundländer ziemlich nachdrücklich in die Seiten zu bohren, bis dieser, trotz seiner großen Geduld, wieder einmal vor Schmerz laut aufjauchzte.
Herr Seim, begabt mit ungewöhnlichem Scharfsinne, betrachtete das Jauchzen