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Der Meerkönig. Balduin MöllhausenЧитать онлайн книгу.

Der Meerkönig - Balduin Möllhausen


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Die langbewimperten Lider senkten und hoben sich schwerer, je nachdem der Schlaf leise über sie hinfächelte, oder durch die fremde Umgebung plötzlich wieder die Aufmerksamkeit auf Momente gefesselt wurde.

      Ein unendlich süßes, nie geahntes Gefühl der Sicherheit und des Wohlbehagens hatte sich der armen, verfolgten Waise bemächtigt. Es war, als habe sie absichtlich gegen den Schlaf gekämpft, um nicht das Bewußtsein ihrer gegenwärtigen Lage zu verlieren. Lächelte ihr doch Alles so freundlich entgegen, und schien doch selbst die alte Uhr mit ihrem ernsten, heiseren Ticken in tröstender Weise aus längst verflossenen Zeiten zu erzählen, aus Zeiten, in welchen weder an das todte noch an das lebende Lieschen gedacht wurde! Und dabei wirkte das gemessene Geräusch des staubigen Uhrwerks so einschläfernd, daß die Würfel in dem von dem Lampenlichte durchschimmernden Bettvorhange immer mehr in einander flossen und die Aepfel und die Gypsfiguren auf dem Gesimse scheinbar vor Müdigkeit wackelten und dem kleinen fremden Gaste freundlich zunickten.

      Lieschen kämpfte matter und matter gegen den Schlaf; sie wunderte sich zuletzt gar nicht mehr, daß das weiße Kaninchen bedächtig den Kopf schüttelte und mit den Pfoten über seine schwarze Nase hinfuhr, sie wunderte sich nicht, als es sogar von dem Gesimse zu ihr auf das Bett sprang, sich auf die Hinterfüße aufrichtete und die übrigen Gypsfiguren und die Aepfel zu sich herabwinkte. Und sie kamen herbei, die Aepfel wie die Figuren, aber ganz verändert; denn erstere hatten rothwangige Gesichtchen und Hände und Füße und kleine Flügel, während letztere himmelblaue mit Silber gestickte Mäntel trugen, daß sie aussahen wie ein aus heller Sternennacht gewebtes Völkchen.

      Lieschen aber lächelte beseligt und fürchtete sich nicht, als die kleinen Gestalten sich vor ihr zum muntern Reigen ordneten, immer abwechselnd ein Apfel und ein Figürchen, mit angefaßten Händen im Kreise herumtanzten und dabei so possirliche Sprünge machten. Und das Kaninchen saß in der Mitte und nickte mit dem Kopfe und schlug den Tact dazu, daß es sich genau so anhörte, wie das gemessene regelmäßige Ticken einer alten heisern Wanduhr.

      Auch die Musik fehlte nicht; zwar war sie nur dem leisen Murmeln berathender Menschen ähnlich, aber es war doch immer eine schöne, eine heilige Musik, denn sie ging von der guten Marie aus und von den biederen Bauersleuten, indem sie über das lebenswarme Lieschen in dem großen Bette, und das arme todeskalte Lieschen in der kleinen Kammer sprachen und dabei Gottes Güte und Allmacht priesen.

      Lieschen in dem Himmelbette lächelte immer wieder; sie war so glücklich, daß sie bis an ihr Lebensende hätte so fortschlafen mögen. Die Uhr tickte, das Heimchen sang, näher waren die drei guten Menschen zusammengerückt und inniger und traulicher flüsterten sie mit einander.

      Und Niemand wußte es und Niemand hatte ihn gesehen, aber der Engel des Friedens war durch die Todtenkammer und das Wohngemach geschwebt, hier tröstend, aufrichtend und ermahnend, dort zur ewigen Ruhe einsegnend und bleiche, kalte Lippen im leisen Kusse berührend. Und als ob er sein Tagewerk vollbracht habe und über das stille Strohdach der Hütte hinaus in seine himmlische Heimat zurückkehre, zertheilten sich die schweren Wolken. Hierhin und dorthin zogen sie hastig, und doppelt hell funkelnd und glitzernd schauten Milliarden von Sternen auf die unter der tiefen Schneedecke schlummernde Erde nieder.

      3. Die arme Marie.

      Lieschen war in einen tiefen, kräftigenden Schlummer gesunken. Marie, deren Bruder und Schwägerin lauschten mit innerer Befriedigung den regelmäßigen Athemzügen; sie freuten sich über die Ruhe des Kindes, ihnen selbst aber blieb der Schlaf fern. Das Abendbrot war kaum angerührt und wieder in den massiven Speiseschrank gestellt werden; düster brannte die Lampe auf dem eichenen Tische und ämsig nähte Marie an dem Sterbekleidchen, während die beiden Ehegatten ihr betrübt zusahen und in flüsterndem Tone zu ihr sprachen.

      Sie erzählten sich gegenseitig von dem frommen und rechtschaffenen Herrn Seim, der stets ein freundliches Wort und einen herzlichen Händedruck für jeden Einzelnen von ihnen in Bereitschaft habe und nie um Pfennige mit ihnen feilsche, wie so viele Andere, sondern von dem Grundsatze ausgehe, daß auch die armen Bauern leben müßten. Sie erzählten, wie er sich für seine verwaisten Schützlinge aufopfere, nur für diese lebe und webe, und wünschten, daß Gott ihm seine Rechtschaffenheit vergelten möge. Unerklärlich erschien es ihnen dagegen, daß man ihr neues Lieschen in so hohem Grade gequält habe, bis es endlich davongelaufen sei. Sie schoben aber Alles auf schlechte Menschen, deren es in der ganzen Welt gäbe, von denen auch wohl der gute Herr Seim hintergangen worden sei und in Folge dessen mit mehr Härte und Strenge gegen manche Kinder verfahre. Den Herrn Seim bedauerten sie fast eben so sehr, wie das arme, halb erstarrte Kind, und Reichart vermaß sich hoch und theuer, daß er dem braven Vorsteher reinen Wein einschänken und ihm die Augen öffnen wolle, damit dergleichen nicht wieder geschehe.

      »Worauf er seine Leute schicken wird, um uns das Kind wieder fortnehmen und härter als Jemals bestrafen zu lassen,« unterbrach Marie ihren in Eifer gerathenen Bruder; denn indem sie sich Lieschens aufrichtigen Blick vergegenwärtigte, begannen leise Zweifel an der Gerechtigkeitsliebe des Herrn Seim in ihr aufzusteigen.

      »Um Gottes willen nicht!« versetzte die Bäuerin erschreckt. »Unser neues Lieschen gebe ich nicht heraus, und käme das ganze Waisenhaus, um es von mir zurückzufordern! Nein, nein, das Kind hat genug erduldet, es bleibt bei uns, und den möchte ich sehen, der es in unserem Hause anzurühren wagte! Das arme, liebe Herz, wie es sich an mich schmiegte und mich Mutter nannte, und dabei zu denken, daß Jemand es schlagen und einsperren könnte!«

      Reichart rieb sich verlegen die Stirne, offenbar sann er vergeblich über einen Ausweg nach. Er wollte das Kind für sein Leben gern behalten, aber auch gegen die gesetzliche Ordnung verstoßen wollte er nicht, und ein dunkles Gefühl sagte ihm, daß er durch eine Verheimlichung vielleicht gerade zum Nachtheil seines Schützlings handle.

      »Ich denke, wir behalten das Kind wenigstens vorläufig bei uns,« nahm Marie jetzt wieder das Wort, »vielleicht so lange, bis nach ihm gefragt wird, und dann ist ja noch immer Zeit, weitere Schritte zu seinem Besten zu thun.«

      »Aber der Ortsschulze,« warf Reichart zweifelnd ein, »er wird das Mädchen sehen und fragen, woher es stamme; was soll ich dann wohl antworten? Sage ich ihm die Wahrheit, so ist sein Erstes, daß er selbst die Kunde von der Rettung des kleinen Flüchtlings nach dem Waisenhause trägt.«

      »So gieb vor, es sei eine Verwandte, vielleicht die Tochter unseres mit Kindern so reich gesegneten Vetters, die Du nach dem Verluste des eigenen Kindes an Kindesstatt angenommen habest,« versetzte Marie zögernd; denn ihr strenger Rechtlichkeitssinn kämpfte nur matt gegen die wachsende Theilnahme und Besorgniß für den kleinen fremden Gast. »Gewiß wird Niemand daran denken, Dein Wort zu bezweifeln und Nachforschungen anzustellen, und kommt später der wahre Sachverhalt wirklich zu Tage, so wird man unser Verfahren um unserer Trauer und unserer Liebe willen entschuldigen und nicht mehr auf eine Trennung dringen.«

      »Wenn sie das Kind aber selbst fragen?« erwiderte Reichart, dessen Bedenken durch der Schwester Rathschläge bereits zum größten Theil beschwichtigt waren. »Und alt und verständig genug scheint es zu sein, um über sein Herkommen Aufschluß geben zu können.«

      »Ja, das ist das Einzige, was mir Zweifel und Besorgniß einflößt,« entgegnete Marie sinnend, während die Augen der beiden Gatten gespannt an ihren Lippen hafteten. »Es scheint mir sündhaft, das arme Kind zu einer Lüge zu verleiten, und dennoch sehe ich keinen andern Ausweg, auf welchem wir es vor einem traurigen Loose zu bewahren vermöchten; und das liegt doch wohl auf der Hand, daß bei seiner Rückkehr in die Anstalt gewiß nicht die freundlichste Behandlung seiner harren würde.«

      »Gewiß nicht, nein, gewiß nicht,« fiel die Bäuerin jetzt mit Wärme ein, »sie würden das arme Kind hinter dem Rücken des Herrn Seim zu Tode peinigen; nein, das Kind bleibt bei mir, und sollte ich deshalb hundert Lügen sagen! Ich werde das arme Herzchen schon vorbereiten und ihm seine Antworten in den Mund legen, ich werde ihm sagen, wie schändlich es sei, zu lügen, und daß es hier nur geschehe, um uns Verdruß zu ersparen. O, in diesem Falle ist eine Nothlüge keine Sünde, nein, gewiß nicht, viel eher eine gute, christliche Handlung!« So sprechend, erhob sie sich mit hastiger Bewegung, und auf den Zehen nach dem Bette hinschleichend,


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