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Von Zwanzig bis Dreißig. Theodor FontaneЧитать онлайн книгу.

Von Zwanzig bis Dreißig - Theodor Fontane


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völliger Kursus, der sich über einen ganzen Winter hin ausdehnte. Wir wechselten dabei mit »hoch oben« und »tief unten«. Wenn wir uns an einem Tag bis zum Ship-Hotel in Greenwich oder gar bis zu Star und Garter in Richmond verstiegen hatten, waren wir am andern Tag in den tollsten Spelunken, wohin uns dann ein Polizeibeamter von mittlerem Rang, ein Bekannter Fauchers, zu begleiten pflegte. Den Verkehr zu sehen zwischen diesem Faucherschen Bekannten und den Verbrechern, die seine geliebte Herde bildeten, war immer ein Hochgenuß. Ein noch größerer bestand darin, die – verglichen mit unsren Berliner Radaubrüdern – oft feinen und dabei humoristischen Formen zu beobachten, die in dieser Verbrecherwelt anzutreffen waren. Eigentlicher Knotismus ist nur bei uns zu studieren.

      Diese Fahrten durch die sehr unoffizielle Welt von London währten eine geraume Zeit. Als wir schließlich Schicht damit machten, kamen Landpartien an die Reihe, richtiger vielleicht weite Spaziergänge in die Londoner Umgegend. Eines Tages, nachdem wir den Vormittag in einer Werbekneipe dicht bei Downing-Street – Straße, darin die sehr unscheinbaren Baulichkeiten des Auswärtigen Amtes gelegen sind – zugebracht hatten, nahmen wir unsren Weg über die Westminsterbrücke nach Süden und schritten auf Kennington-Common und dann auf Norwood und jene reizenden Wald- und Wiesengründe zu, die den Crystal-Palace einfassen. Leise, durchsichtige Nebel lagen über der Landschaft, zugleich aber war es frühlingsfrisch, so daß uns die Luft beinah trug und das Marschieren keine Mühe machte. Faucher hatte seinen besten Tag und sprudelte nur so, wobei mir, nebenherlaufend, die Bemerkung gestattet sein mag, daß ich, mit Ausnahme von Bismarck – von diesem dann freilich in einem guten Abstand –, keinen Menschen zu nennen wüßte, der die Gabe geistreichen und unerschöpflichen Plauderns über jeden Gegenstand in einem so eminenten Grade gehabt hätte wie Faucher. Er schwatzte nie bloß darauflos, jeder Hieb saß. Ein paar Sätze sind mir noch von jenem Spaziergange her in Erinnerung geblieben. Wir sprachen von Berlin, und ich erzählte grade von einem neuen »volkstümlichen Unternehmen«, von dem ich den Tag vorher in der Vossischen Zeitung gelesen hatte. »Das kann nichts werden«, replizierte Faucher, »in Berlin glücken immer nur Sachen, die 'n Groschen kosten.« Ein Satz von stupender Weisheit, der au fond auch heute noch richtig ist. – Im weitren Lauf unsres Gesprächs vom Hundertsten aufs Tausendste kommend, kamen wir auch auf das Thema: Kunstdichtung und Volkslied. Faucher, ganz seiner Natur entsprechend, schwärmte selbstverständlich für alles Volksliedhafte, besonders auf dem Gebiete des Kriegs- und Soldatenliedes, und plötzlich seinen Schritt anhaltend und sich in Positur setzend, hob er mit Aplomb und ganz strahlend vor Vergnügen an:

      »Und wenn der große Friedrich kommt

       Und klopft bloß auf die Hosen,

       Reißt aus die ganze Reichsarmee,

       Panduren und Franzosen, –

      sehen Sie, Fontane, das ist was, das hätte selbst unser großer Maron nicht gekonnt! Und wenn ich dann gar erst an Vater Gleim denke! Gott, was würde der alte Halberstädter Kanonikus für'n Gesicht gemacht haben, wenn man ihm vor hundert Jahren gesagt hätte, dieser eben von mir zitierte Gassenhauer würde seine sämtlichen Grenadierlieder um etliche Menschenalter überdauern. Und doch ist es so. Gleim ist vergessen. Volk, Volk; alles andre ist Unsinn.«

      Unsre Spaziergänge bis weit in Surrey hinein dauerten durch das ganze Frühjahr siebenundfünfzig hin, und als wir endlich auch damit abschlossen, wandten wir uns dem zu, was Fauchers recht eigentlichste Domäne war, den über die ganze City hin verbreiteten »Debating Clubs«. Die meisten befanden sich in Fleet-Street und ein paar engen Nachbarstraßen, also in dem verhältnismäßig kleinen Quartier zwischen Temple-Bar und Ludgate Hill – ein paar andre waren in Grays Inn Lane. Wie's da herging, das war überall dasselbe. Tisch' und Stühle sehr primitiv; man bestellte sich Stout oder pale ale oder Whisky und dazu einen Mutton-chop oder welsh rabbit – walisisches Kaninchen –. Dieses »walisische Kaninchen« entsprach unserm »falschen Hasen«. Denn von Kaninchen stand nichts drin, vielmehr war es eine mit Chesterkäse belegte Weißbrotschnitte, die aber derart gebacken war, daß Käse und Weißbrot eine höhere Einheit bildeten. Es schmeckte sehr gut, war aber ungesund. Und während man sich's schmecken ließ, erschien in Front der Gesellschaft der Kneipenredner von Metier, um die Debatte des Abends einzuleiten. Ich bin diesen Rednern immer sehr aufmerksam und sehr teilnahmsvoll gefolgt, denn es waren immer gescheiterte Existenzen, die sich durch diese ihre stets mit Würde, ja manchmal sogar mit »sittlicher Empörung« vorgetragenen Reden ihren Lebensunterhalt verdienen mußten. Manchem sah man an, daß er, der vielleicht drauf und dran gewesen war, ein berühmter Advokat oder ein Parlamentarier zu werden, nun sich dazu hergeben mußte, bloßen Durchschnittsphilistern ein Stücklein ihm selber lächerlich erscheinender politischer Weisheit vorzutragen. Wie sich denken läßt, modelte sich der Vortrag dieser Leute sehr nach dem Publikum, das sie vor sich sahen. War ich beispielsweise mit ein paar Spießbürgern aus der Nachbarschaft ganz allein da, so war ich Zeuge, wie leicht der Redner es nahm; von dem Moment an aber, wo Faucher erschien und sich neben mich setzte, belebte sich das Gesicht des »Debaters«, und es war sichtlich, daß er sein Lied »auf einen höheren Ton« zu stimmen begann. Nur sehr ausnahmsweise war Faucher in der Laune, das zur Debatte stehende Thema seinerseits aufzunehmen und weiterzuspinnen, wenn es aber geschah, so war es jedesmal ein Triumph für ihn, und der mehr oder weniger in die Enge getriebene Fachredner war klug genug, sich dem Enthusiasmus der Versammlung anzuschließen. Faucher sprach bei diesen Gelegenheiten immer sehr gut und witzig, aber das war es doch nicht, was ihm den Sieg in diesem Kreise sicherte; was man am meisten an ihm bewunderte, war sein großes Wissen. Er wußte das auch und fuhr deshalb gern das schwere Geschütz auf. Einen kleinen Shopkeeper, der mir einmal bewundernd zuflüsterte: »He knows everything«, seh' ich noch deutlich vor mir.

      Ich hielt in diesen Debating Clubs einen ganzen Winter lang aus, dann wurde es mir aber langweilig, was mir Faucher so wenig übelnahm, daß er mir umgekehrt, zur Belohnung für meine bis dahin bewiesene Ausdauer, etwas »Höheres« versprach. »Einige Fremde haben da neulich einen internationalen Verein gegründet, auch ein paar Engländer sind mit dabei; da werde ich Sie einführen. Ich denke mir, es muß Ihnen Spaß machen.«

      »Wie heißt denn der Klub?«

      »Es ist kein Klub; wir haben das Wort absichtlich vermieden. Es ist, wie ich schon sagte, eine internationale Gesellschaft, Menschen aus aller Herren Länder; Sprachwirrwarr. Und danach haben wir denn auch den Namen gewählt. Die Gesellschaft heißt › Babel‹.«

      Ich fand das sehr hübsch, ließ mich einführen und habe, was mir in deutscher Sprache nie passiert ist, auch einmal, englisch, einen Vortrag in ebendieser Gesellschaft gehalten. Worüber, weiß ich nicht mehr, ist auch gleichgültig. Aber das weiß ich, daß die Gesellschaft überhaupt sehr interessant war, vielleicht weil das Hamlet-Wort »Thou comest in such a questionable shape« auf jeden einzelnen in dieser Gesellschaft wundervoll paßte. Manche weiß ich noch mit Namen zu nennen, und ihr Bild steht mir noch deutlich vor der Seele. Da war Mr. Heymann, der »Schlesien, sein Heimatland«, ganz vergessend, zum Engländer geworden war oder sich wenigstens daraufhin ausspielte; da war Mr. Dühring, Perpetuum mobile-Sucher und Tiftelgenie; da war Mr. Bernard – Franzose –, der, wie man sich erzählte, dem Orsini die Bomben angefertigt hatte; da war ein Mr. Blythe, der Leitartikel für M. Herald oder M. Advertiser schrieb; da war Mr. Mosabini, ein bildhübscher griechischer Jude; da war schließlich ein blasser, harmloser, zwischen Wener- und Wettersee geborener Schwede namens Dalgreen, seines Zeichens ein Gärtner, der sich, gleich mir, in diese zum Teil sehr kühne Gesellschaft nur verirrt hatte.

      Ich will ein paar Details aus der Babel-Gesellschaft mit ihm (Dalgreen) beginnen. Es wurde von einem in Italien vorgekommenen, aber ergebnislos verlaufenen politischen Verbrechen gesprochen. Dalgreen sagte: »Schändlich, dieses ewige Bombenwerfen; ich ließe den Kerl mit Zangen kneifen.« Der Orsini-Mann, Mr. Bernard, der ihm gegenübersaß, sah ihn eine Weile an. Dann sagte er: »Merkwürdig. Immer wieder dieselbe Erscheinung. Alle harmlosen Menschen sind für Köpfen und Rädern, während wir, von Fach, uns die Sache doch jedesmal sehr überlegen.« Es machte auf uns alle einen großen Eindruck, denn mit Mr. Bernard, so fromm und mild er aussah, war, seiner ganzen Vergangenheit nach, nicht zu spaßen.

      Von Mr. Blythe (Engländer) lebt mir ein andres Wort in der Seele fort, ein noch viel wahreres. Einer von den vielen Deutschen, die zugegen waren, stritt sich


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