Die Eissphinx. Jules VerneЧитать онлайн книгу.
Glieder seines Skeletts hervortreten ließ.
Wie packte mich da manchmal die Ungeduld, trotz der weisen Rathschläge meines Gastwirths, der sich in seinem Hause in Christmas-Harbour so glücklich fühlte! Wie selten sind doch in dieser Welt die Leute, die die Praxis des Lebens zu Philosophen gemacht hat. Bei Fenimore Atkins hatte übrigens das Muskelsystem entschieden das Uebergewicht über das Nervensystem. Vielleicht war ihm weniger Intelligenz als eine Art Instinct gegeben. Derlei Leute sind gegen Widerwärtigkeiten des Lebens besser gewappnet, und im ganzen sind ihre Aussichten, das Glück zu finden, vielleicht verheißender.
»Nun, und die Halbrane?... fragte ich ihn jeden Morgen.
– Die »Halbrane«, Herr Jeorling?... antwortete er dann in zuverlässigstem Tone. O, die wird jedenfalls heute eintreffen, na, und wenn nicht heute, dann morgen!... Es muß doch unbedingt erst einen Tag vor dem geben, an dem die Flagge des Kapitän Len Guy an der Einfahrt von Christmas-Harbour flattert!«
Um mein Gesichtsfeld zu erweitern, hätte ich nur den Table-Mount (Tafelberg) zu ersteigen brauchen. In einer Höhe von zwölfhundert Fuß kann man schon vierunddreißig bis fünfunddreißig Meilen (etwa 57 Kilometer) weit sehen und selbst durch leichten Dunst wäre die Goëlette vielleicht vierundzwanzig Stunden früher zu bemerken gewesen. An ein Erklimmen dieses Bergs aber, dessen Abhänge bis zum Gipfel hinauf noch mit Schnee bepackt waren, hätte nur ein Tollkopf denken können.
Wenn ich über die Strandflächen hinwanderte, trieb ich nicht selten eine Menge Amphibien in die Flucht, die in das Schmelzwasser tauchten. Die stumpfsinnigen und schwermüthigen Pinguine ließen sich durch meine Annäherung indeß nicht stören. Hätten sie nicht das charakteristische dumme Aussehen, so wäre man wirklich versucht, sie anzusprechen, vorausgesetzt, daß man sich ihrer schreienden, ohrbetäubenden Sprache bedienen könnte. Die Sturmvögel dagegen, die schwarzen und die weißen Wasserscheerer, die Silbertaucher, Seeschwalben und Trauerenten flatterten eiligst von dannen.
Einmal war es mir auch vergönnt, dem Wegzuge eines Albatros beizuwohnen, den die Pinguine mit lautem Krächzen begleiteten, etwa so, als ob ein Freund sie für immer verließe. Diese mächtigen Flieger können, ohne einen Augenblick zu ruhen, Strecken von zweihundert Lieues (1 Lieue = 3/4 geographische Meilen) zurücklegen und das mit solcher Schnelligkeit, daß sie sehr lange Strecken in wenigen Stunden durcheilen.
Der Albatros, der erst regungslos auf einem hohen Felsen am Ende der Bucht von Christmas-Harbour saß, schaute dabei auf das Meer hinaus, dessen Brandung wüthend gegen die Uferklippen schäumte.
Plötzlich erhob sich der stolze Vogel mit weit ausgespannten Schwingen, angezogenen Beinen und gleich einem Schiffsschnabel vorgestrecktem Kopfe, ließ einen scharfen Schrei ertönen, und wenige Minuten später verschwand er schon, in den hohen Luftschichten zu einem schwarzen Punkte zusammengeschrumpft, in den Dunstmassen des Südens.
Zweites Capitel
Die Goëlette »Halbraue«
Dreihundert Tonnen groß, mit schräg stehenden Masten, was ihr gestattete, auch scharf am Winde noch schnell vorwärts zu kommen, und mit einer Segelausrüstung, die für das Schiff ziemlich reichlich erschien – das war der in Christmas-Harbour erwartete Schooner, die Goëlette »Halbrane«.
An Bord befanden sich ein Kapitän, ein Lieutenant, ein Hochbootsmann, ein Koch und acht Matrosen, zusammen zwölf Mann, die zur Schiffsführung vollständig ausreichten. Sehr fest gebaut, die Schanzkleidung mit Kupfer bezogen, mit angepaßten Segeln versehen und am Achter weit ausladend, machte das seetüchtige, gut steuerbare Fahrzeug mit seiner für Reisen zwischen dem vierzigsten und sechzigsten Grad südlicher Breite berechneten Einrichtung den Werften von Birkenhead alle Ehre.
Diese Mittheilungen erhielt ich, von vielfachen Lobsprüchen untermischt, aus dem Munde des Meister Atkins.
Der Kapitän Len Guy aus Liverpool war zu drei Fünfteln Eigenthümer der »Halbrane«, die er seit ungefähr sechs Jahren befehligte. Er befuhr die südlichen Meere Afrikas und Amerikas, wobei er von einer Insel zur anderen und von einem Festland zum anderen steuerte. Seine Goëlette beschränkte sich auf eine Besatzung von nur zwölf Köpfen, weil sie ausschließlich Handelszwecken diente. Für die Jagd auf Amphibien, Robben und Seekälber hätte es, abgesehen von einer Ausrüstung mit Apparaten, Harpunen, Fischgabeln und dazu gehörigen Leinen, einer zahlreicheren Mannschaft bedurft. Ich bemerke auch, daß die »Halbrane« in diesen etwas unsicheren Meerestheilen, wo jener Zeit verschiedene Seeräuber ihr Unwesen trieben, und auch in der Nähe recht verdächtiger Inseln, von einem Ueberfall nicht unvorbereitet überrascht worden wäre: vier kleine Kanonen, eine hinreichende Menge Kugeln und Kartätschenhülsen, eine wohlversorgte Pulverkammer, Gewehre, Pistolen, an einer Flintenbank hängende Carabiner und Schanzkleidungsnetze verliehen ihr weitgehende Sicherheit; die Leute auf dem Schiffe schliefen auch sozusagen immer nur mit einem Auge.
In diesen Gewässern umherzusegeln, ohne solche Vorsichtsmaßregeln getroffen zu haben, wäre auch unverzeihliche Unklugheit gewesen.
Als ich am Morgen des 7. August noch im Halbschlummer lag, wurde ich durch die laute Stimme des Gastwirths und sein ungestümes Pochen an der Thür aus dem Bett gejagt.
»Herr Jeorling, sind Sie wach?
– Natürlich, Meister Atkins. Wie sollte das einer bei solchem Lärm auch nicht sein?
– Sechs Meilen weit draußen, im Nordosten ist ein Schiff sichtbar, das auf Christmas-Harbour zusteuert!
– Sollte es die »Halbrane« sein? rief ich und warf schnell die Kleider über.
– Das wird sich in wenigen Stunden zeigen, Herr Jeorling. Jedenfalls ist es in diesem Jahre das erste Fahrzeug, das unbedingt einen guten Empfang verdient.«
Ich kleidete mich im Handumdrehen an und trollte mit Fenimore Atkins nach dem Quai an eine Stelle, wo sich der Horizont zwischen den beiden Landspitzen von Christmas-Harbour unter weitem Winkel öffnet.
Das Wetter war ziemlich klar, die Dünste über dem Wasser fast verschwunden und ein leichter Wind strich über das weite Meer. Infolge ziemlich regelmäßiger Winde ist der Himmel über dieser Küste der Kerguelen meist reiner als über der entgegengesetzten.
Etwa zwanzig Einwohner, meist Fischer, umringten Meister Atkins, der ohne Widerrede die bedeutendste und geachtetste Persönlichkeit der Insel war und dessen Worten man hier am meisten lauschte.
Der Wind begünstigte gerade die Einfahrt in die Bucht. Bei der eben herrschenden niedrigsten Ebbe aber manövrierte das gemeldete Schiff – ein Schooner – ohne Eile, um jedenfalls die Fluth abzuwarten.
Die Männer tauschten ihre Ansichten aus und ich folgte sehr gespannt dem Gespräche, ohne mich einzumischen. Die Meinungen erschienen getheilt und wurden von beiden Seiten mit großer Hartnäckigkeit vertheidigt.
Ich muß freilich gestehen – und das bekümmerte mich etwas – daß die Mehrheit der Ansicht war, in jenem Schooner die Goëlette »Halbrane« nicht vor sich zu sehen. Nur zwei oder drei, und darunter der Besitzer des »Grünen Cormoran«, glaubten diese darin zu erkennen.
»Es ist doch die »Halbrane«! wiederholte Atkins. Der Kapitän Len Guy sollte nicht als Erster nach den Kerguelen kommen... Das wäre mir! Er ist es, dessen bin ich so sicher, als wenn er schon hier wäre, seine Hand in die meine legte und zur Erneuerung seines Proviants um hundert Piculs Kartoffeln handelte!
– Ihre Augen sind wohl heute nicht ganz klar, Herr Atkins, ließ sich ein Fischer vernehmen.
– Jedenfalls klarer als Dein Gehirn! erwiderte der Gastwirth beleidigt.
– Das Schiff dort hat gar nicht den Rumpf eines Engländers, erklärte ein Anderer. Bei seinem schlanken Vordertheile und der starken Ausbauchung des Mitteltheils würde ich es für ein amerikanisches halten.
– Nein, es ist ein englisches, widersprach Atkins, und ich möchte mich fast anheischig machen, zu sagen, wo es vom Stapel gelaufen ist... ja, an den Werften von Birkenhead bei Liverpool, wo die »Halbrane« gebaut wurde!