Die Bluthunde von Paris. Christina GeiselhartЧитать онлайн книгу.
die Tür nach hinten und gelangte in ein mit Schotter verschüttetes Entrée, das sich zu einem großen Raum hin öffnete. Dort musste einst der Salon gewesen sein, denn er legte Zeugnis ab von vergangener Eleganz.
Ein verschlissenes Sofa lehnte an der Wand, rechts neben dem Fenster, von dem ein zerrissener Samtvorhang herabhing, stand ein Louis XIV-Schreibtisch, dem eines seiner eleganten Beine fehlte, links davon strebte eine Bibliothek – oder was von ihr geblieben war – hinauf bis unter die Zimmerdecke aus Stuck. Regale waren durchgebrochen, andere zerschlagen oder mit dunklen Flecken beschmutzt. Auf einigen befanden sich noch Bücher, die den Staub von Jahrhunderten angesammelt zu haben schienen.
An den Wänden wimmelte es von pelzigem grünweißem Schimmel, es roch nach Moder und feuchtem Holz. Je weiter Philippine vordrang, umso mehr gewann sie die Gewissheit, das heimliche Liebesnest eines Herzogs oder einer Gräfin entdeckt zu haben, Liebende, die das Manoir aus mysteriösen Gründen hatten aufgeben müssen. Das breite Bett im angrenzenden Raum war unbeschädigt, aber die Seidenlaken zerrissen, die Kissen zerfleddert und die Matratze schien von Messerstichen durchlöchert. Es sah aus, als wäre das Haus barbarischer Wut zum Opfer gefallen. Alle Wertgegenstände hatte man entwendet, die Leuchter, die noch herumlagen, hatte man verbogen, die Samtvorhänge zerfetzt, das Spiegelglas über dem Kamin willentlich zertrümmert. Am herrlichen Kamin aus schwarzem Marmor hingegen hatte sich niemand vergangen. In die Leiste seines Simses waren rosafarbene Rosetten eingelegt, denen nur Wind und Wetter ihren Stempel aufgedrückt hatten. Verwundert betrachtete Philippine die kostbare Verkleidung des Rauchfangs. Seine Schönheit wirkte verloren inmitten des verwüsteten Raumes. Erstaunt strich sie über seine glatte Oberfläche. Staub, Holz- und Glassplitter blieben an ihren Händen hängen.
Der Ort atmete Geheimnis und Gefahr, aber für Philippine wurde er in den traurigen Wochen, nachdem man Alberta gefunden hatte, zu einem Zufluchtsort. Die Schindeln waren noch intakt und hielten den Regen ab, die Grundmauern hingegen wiesen Löcher auf, als hätte das Gemäuer einst unter Beschuss gestanden.
Jeden Tag, den sie kam, legte sie Hand an, schob Geröll zur Seite, kehrte den Staub hinaus und überlegte, wie sie den scheibenlosen Fenstern ein wohnlicheres Gesicht geben könnte. Die Arbeit war mühevoll, ihr Fuß, der mittlerweile in einem engen Holzschuh steckte, schmerzte, doch sie ließ sich von ihrer Schwerfälligkeit nicht entmutigen. Froh darüber, ihrem Geburtshaus entfliehen zu können, dieser dunklen Höhle, dieser unterirdischen Kammer der Sünde und des Verbrechens, erleichtert und dankbar, nicht mehr den Geruch nach Blut, Schweiß, Cidre und Samen einatmen zu müssen, wollte sie alle Mühsal der Welt auf sich nehmen, wenn nur dieser Ort für kurze Zeit zu dem ihren würde.
Seit langem schien er verlassen, warum sollte sich ausgerechnet jetzt, da sie ihn gefunden hatte, jemand seiner erinnern? Er war abgeschieden, keine Straße führte zu ihm, nur verschlungene Pfade und der Weg hinterm Haus, auf dem man zu einer kleinen Lichtung gelangte, die zwischen den mächtigen Stämmen der Eichen hindurchschimmerte. Hier in diesem verwunschenen Manoir, war trotz des Staubes, den zerschossenen Mauern, dem Unkraut, das durch den aufgeweichten Holzboden drängte, alles rein. Und der Ort würde rein bleiben, solange ihre Mutter nichts davon wusste. Ihre Mutter hatte eine schwarze Seele, deshalb nahm sie sich vor der Frau in Acht. Trotz aller Mühe und Liebe, die Lea in den letzten zwölf Jahren auf Philippine verwendet hatte, hatte sie nicht wirklich das Herz des Mädchens erreichen können. Geräuschlos hatte sich zwischen den beiden eine Mauer errichtet. Das Leben, je weiter es voranschritt, trennte die beiden. In Lea wohnte das Verderben und wer sich nicht vor ihr schützte, wurde vom Verderben mitgerissen.
Eines Tages - zwei Monate waren seit Albertas Tod vergangen - kam Philippine erst gegen Abend zum Landhaus. Schon aus der Entfernung sah sie Licht durch die Bäume schimmern. Verwundert hielt sie an, stieg vom Pferd, band die Zügel fester um den Hals des Tieres und schlich zum Haus. Auf leisen Sohlen - was mit der Krücke und dem derben Schuh schwierig zu bewerkstelligen war - näherte sie sich einem der Fenster. Sie entdeckte Holz im Kamin, eine Schreibrolle in einer Nische des Vorsprungs, große, hohe Kerzen. Das Haus gehört jemand, durchfuhr es sie. Aber natürlich gehört es jemand, echote es in ihrem Kopf. Das hast du von Anfang an gewusst, nur wolltest du es nicht wahrhaben. Ja, das verlassene Gemäuer im Wald war zu ihrem Haus geworden, zu ihrem Zuhause und fast war es Heimat. Der Gedanke, es aufgeben zu müssen, schnürte ihr die Kehle zu.
Falls der Eigentümer sie hier erwischte, würde er sie davonjagen oder schlimmer noch: Vielleicht würde er sie dafür bestrafen, seinen Besitz eigenmächtig betreten zu haben. Traurig blickte sie durch das Fenster, über dessen Kopfseiten sie schon Haken gehämmert hatte, um daran Stoffe zu befestigen. Vraem graste wie üblich auf der Lichtung jenseits der Eichen. Sie überlegte, ob sie die Stute rufen sollte, aber das Gefühl, vielleicht nie wieder zurückkommen zu dürfen, hielt sie ab, und einen stillen Moment lang spürte sie mit allen Sinnen ihrem einzigen Traum nach: Dem von Wärme, Geborgenheit. Dem von Heimat, von Zugehörigkeit. Dem von Liebe. Schritte rissen sie aus ihrer Gefühlswelt. Vor Angst gelähmt duckte sie sich, wartete, versuchte die Geräusche, die sie nun hörte, zu deuten. Jemand näherte sich dem Kamin, Holz wurde nachgelegt. Dürres, leicht entflammbares Holz, denn plötzlich knisterte es laut.
Philippine erkannte die Möglichkeit, unbemerkt in den Raum zu blicken und tat es. Der Abend hatte sich herabgesenkt, so dass die Dunkelheit ihr Schutz bot, während dagegen die Person im Innern des Hauses im flackernden Licht stand. Der Mensch vor dem Kamin hatte Kleinholz in den Rauchfang geworfen und die Glut geschürt. Die auflodernden Flammen erhellten sein Gesicht, und je tiefer sie sich in das Holz fraßen und den hohlen Schacht beleuchteten, umso deutlicher zeichnete sich seine Gestalt ab. Erstaunt und ängstlich zugleich betrachtete das Mädchen den Fremden. Ein junger Mann beugte sich über das Feuer und rieb seine Hände. Noch nie hatte Philippine solche Hände gesehen. Weiß, feingliedrig, schön geformt. So sehen die Hände eines vornehmen Menschen aus, dachte sie mit klopfendem Herzen.
Da der junge Mensch in die Glut blickte, zeichnete sich sein Profil ab und Philippine dachte weiter: „So sieht das Profil eines vornehmen Mannes aus. Feine Nase, schön geschwungener Mund, ein wohlgeformtes Kinn, dunkles Haar, das in Locken auf die Schultern fällt. Träume ich?“ Philippine wagte kaum zu atmen und duckte sich rasch hinter den Fenstervorsprung, weil der Fremde sich aufrichtete und nach den Kerzen griff. Er befestigte sie in einem Kerzenleuchter, dessen Form und Eleganz unter der gelbfleckigen Schwärzung Silber erahnen ließ. Die Dochte entflammten und beleuchteten seine großen Augen. Er legte seinen Rock ab, rückte das verschlissene Sofa an die Feuerstelle und holte die Schriftrollen vom Sims. Mittlerweile hüllte der Abend das Gemäuer in seine dunkle Kutte. Kalt war es nicht, nur etwas frisch. Es roch nach Herbst und Regen. Vielleicht lockte all dies die treue Vraem zurück zum Haus. Gemächlich trabte die Stute zu Philippine, wieherte leise und stupste sie mit den Nüstern. Unwillkürlich entfuhr dem Mädchen ein Schrei und sogleich schnellte der junge Mann hoch, während er sich gleichzeitig in einen dunklen Winkel des Zimmers duckte. Vraem war nicht zu übersehen und das kauernde Mädchen neben ihr ebenso wenig. In den Augen des Fremden spiegelten sich Wut und Erleichterung, als er sich dem Fenster näherte.
„Wer bist du? Was hast du hier zu suchen?“, fragte er zornig, wobei er am ganzen Leibe zitterte. Philippine, die ebenso zitterte, aber nicht verstand, warum ein junger, edler Herr wie er in diesen verstörten Zustand kommen konnte, erklärte mit scheuer Stimme, was sie herführte und warum sie sich am Fenster verstecke. Sie fürchtete den jungen Mann nicht, dennoch hütete sie sich, von ihrem Elternhaus zu erzählen. Würde er sie nicht sofort hassen, erführe er, dass sie die Tochter des Verhörvollstreckers war?
Und schon fühlte sie sich klein, unbedeutend, ja ganz und gar hässlich unter seinem herrischen Blick, der Verachtung und Arroganz ausdrückte. Seine Nase stand hoch, seine Lippen waren trotzig aufgeworfen.
Gleichzeitig zitterte er. Und Philippine fragte sich erneut, warum er zitterte. Ja, sie stellte sich viele Fragen, während sie da am Fenster stand, den Körper an ihr Pferd gelehnt. Wer war der junge Mann? Was trieb einen vornehmen Herrn mit Glutaugen und glänzendem Haar in ein verlassenes Landhaus? Trieb ihn ein Verbrechen dort hin? War er ein Mörder? Vielleicht Albertas Mörder? Steif vor Angst verfolgte Philippine jede Geste des Fremden. Wohl hatte er ein schönes sanftes Gesicht, aber so ein Gesicht konnte sich der Teufel auch zulegen.
Sie beschloss