Blut und Scherben. Ole R. BörgdahlЧитать онлайн книгу.
Wald und auf eine schmale Lichtung. Hier war die Erde durchwühlt. Der geübte Blick des Försters sah sofort die Suhlstelle einer Rotte. Die Klauenspuren der Tiere, die Abdrücke ihrer Körper und verstreute Kothaufen. Der Münsterländer wollte den direkten Weg gehen, der Förster zwang ihn aber, die Lichtung zu umrunden. Das Ziel war sofort ausgemacht. Eine Vertiefung etwas abseits der großen Suhle. Hier hatten die Tiere ebenfalls gewühlt und ein Stück Stoff ausgerissen und nach oben befördert. Der Förster nahm die Leine kürzer. Der Münsterländer machte Platz und hechelte mit Blick auf die durchwühlte Grube, aus der ein süßlicher Geruch aufstieg. Es kam vor, dass Dachse ihre Beute tief vergruben und nicht mehr zu ihrem Aas zurückkehrten. Das, worauf der Förster jetzt blickte, war nicht die Beute eines Dachses. Der Verwesungsgeruch wurde schnell unerträglich, nur dem Hund schien es nichts auszumachen.
*
Es war der siebte Ballen Steinwolle, den Marek Quint die Treppe hinaufschleppte. Es staubte, als er die Schutzfolie aufschnitt und der Ballen sich ausrollte. Er hatte vergessen, den Mundschutz aufzusetzen, holte es sofort nach, konnte aber einen Hustenanfall nicht mehr vermeiden. Er ging zum offenen Fenster und atmete einmal tief durch. Dann ging es wieder. Im Radio wurde gerade ein Song gespielt, den er nicht mochte. Er bückte sich zu dem Apparat und stellte einen anderen Sender ein. »Don’t Stop Me Now« von Queen fand seine absolute Zustimmung. Er suchte nach dem Zollstock und dem breiten Messer. Er fand beides, auch den Schleifstein, mit dem er dem Messer noch einmal Schärfe gab, bevor er mit der Arbeit begann.
Die nächsten drei Maße hatte er im Kopf. Er begann mit dem ersten Schnitt, der so glatt und perfekt war, dass er für die nächsten Schnitte das Radio lauter drehte. Freddie Mercury feuerte ihn an. Er nahm die vorbereitete Bahn und drückte sie zwischen die Balken. Er korrigierte den Sitz noch einmal, dann nahm er die zweite Bahn. Wenn er in diesem Tempo weiterarbeitete, würde er bis zehn Uhr das ganze Zimmer isoliert haben. Er bückte sich und spürte dadurch erst jetzt die Vibration seines Handys, das er in die Gesäßtasche seines Overalls gesteckt hatte. Er richtete sich wieder auf, streifte die Gummihandschuhe ab und fischte das Telefon aus der Tasche. Er sah aufs Display. Es war eine Festnetznummer, die er nicht kannte.
»Hallo?«, sagte er zögerlich.
»Marek? Ich bin es Mia.«
»Mia? Schön, dass du dich meldest. Warte, das Radio.« Er reckte sich zu dem Apparat und drehte die Lautstärke ganz herunter. Adele, die für Freddie Mercury übernommen hatte, verstummte. »So, da bin ich wieder.«
»Was machst du gerade?«, fragte Mia.
»Ich werke ein bisschen am Haus.«
»Störe ich dich?«
»Nein, nein, ist schon in Ordnung«, sagte er schnell.
»Na gut, ich muss dir ein kleines Geständnis machen.« Mia zögerte. »Ich bin in Berlin.«
»Ja, seit wann? Wo bist du?« Marek musste sich bremsen, um nicht zu euphorisch zu klingen. »Du solltest dich doch melden, dann kannst du dir das Hotel sparen. Oder bist du nur für einen Tag da?«
»Ich bin nicht im Hotel. Ich habe eine Wohnung hier.« Mia zögerte erneut. »Ich arbeite bereits seit Anfang des Monats in der Verwaltung beim Landeskriminalamt.«
»Seit Anfang des Monats«, wiederholte Marek. »Aber du hattest doch eine Absage.«
»Das ist ja auch richtig«, erklärte Mia. »Das habe ich ja auch geglaubt, aber dann ist jemand abgesprungen, wenn ich das richtig verstanden habe, und man hat mich noch einmal eingeladen.«
»Wann?«
»Ganz kurzfristig. Ich habe natürlich zugesagt. Es hat alles gepasst. Ich konnte sofort anfangen.«
»Sofort anfangen?« Mareks Stimme klang gedämpft.
»Ja, das ging alles so schnell.« Mia räusperte sich. »Ich war so in Action, die Kündigung in Münster ging auch nicht so glatt. Dann der Umzug nach Berlin ...«
»Aber da hätte ich dir doch helfen können«, unterbrach Marek sie.
»Ja schon, aber ich wollte dich auch nicht belästigen. Es musste wirklich ganz schnell gehen. Ich hatte eine Spedition für den Umzug. Da hättest du mir auch nicht viel helfen können.«
»Aber warum hast du mir denn nichts gesagt?«
»Aber ich sage es dir doch jetzt.« Mia schluckte. »Hallo Marek, ich arbeite jetzt in Berlin.«
»Willkommen in der Stadt«, sagte Marek spöttisch.
»Marek, bitte!«, rief Mia. »Ich entschuldige mich ja auch dafür. Es war nicht richtig, dir nichts zu sagen, aber ich bin einfach darüber hinweggekommen. Glaube mir das doch bitte.«
Sie schwiegen einige Sekunden. »Und nun?«, fragte Marek schließlich.
»Ich will es wieder gut machen. Ich lade dich ein. Du hast mir immerhin den Tipp mit der Stelle gegeben.«
»Heute Abend geht es nicht«, sagte Marek schnell. »Ich habe hier noch zu tun und ...«
»Ich dachte nicht an heute Abend«, sagte sie. »Ich fahre morgen noch einmal nach Münster und bleibe übers Wochenende. Wie sieht es nächste Woche bei dir aus. Was ist mit Mittwoch?«
»Mittwoch? Ich weiß nicht.«
»Marek, bitte sei mir nicht mehr böse. Mittwoch, ich lade dich Mittwochabend ins do Brasil ein.«
»Ins do Brasil?« Marek überlegte. »In der Dudenstraße? Gut, das kenne ich.«
»Ja genau. Wir treffen uns gleich nach der Arbeit um sechs oder halbsieben. Du bist mir doch nicht mehr böse, oder?«
Marek biss sich auf die Unterlippe.
»Hallo Marek, was ist denn?«, fragte Mia flehend.
»Nein, ich bin dir nicht mehr böse, bin ich nie gewesen.«
»Oh, danke.« Mia atmete schwer ins Telefon. »Ich rufe noch einmal an, dann machen wir die genaue Uhrzeit aus, ja?«
»Ja.«, antwortet Marek tonlos.
Mia verabschiedete sich. Sie legte auf. Marek starrte das Telefon an. Er wusste nicht, was er von der Sache halten sollte. Er war immer noch verärgert. Und dann fragte er sich, was er denn überhaupt von Mia erwartete. Mia war also in Berlin. Es war das, wozu er sie während ihrer Beziehung in Münster nie überreden konnte. Es war ein eigenartiges Gefühl. Mittwoch, er würde sie am Mittwoch wiedersehen. Er dachte noch einen Moment darüber nach, dann sah er sich auf seiner Baustelle um. Das kleine Zimmer, in dem er heute isolierte, wäre ein gutes Kinderzimmer mit Blick in den Garten.
Er sah zum Fenster und schüttelte den Kopf. Er hatte den Raum schon längst anders verplant. Er wollte ein Arbeitszimmer einrichten, den Eichenschreibtisch aus dem Wohnzimmer heraufschaffen, selbstgemachte Regale montieren, um dort seine Bücher und Zeitschriften unterzubringen. In der Ecke mit der Dachschräge sollte ein Lesesessel stehen, daneben ein Sideboard mit einer Kaffeemaschine. Marek legte das Telefon auf den Stuhl neben der Tür, drehte das Radio auf, lauter als zuvor, und streifte sich die Gummihandschuhe wieder über.
Mike Rosenberg sang »Let Her Go«. Und während Marek die nächsten Zuschnitte vorbereitete, achtete er genau auf den Text des Songs. Der Sender spielte einen guten Mix. Nach drei weiteren Rock- und Pop-Titel kamen die Neun-Uhr-Nachrichten, die Marek allerdings verpasste, weil er Nachschub brauchte. Die Steinwolle lagerte er in seiner kleinen Garage, die nach dem Umbau zwar abgerissen werden sollte, aber derzeit als Materiallager noch unersetzlich war. Er hatte die ersten Partien Steinwolle verbraucht und musste einen Holzstapel umräumen, um an die restlichen Ballen heranzukommen. Es staubte, als ein Bündel Dachlatten, das er innen an die Garagenwand gelehnt hatte, umfiel. Marek fluchte.
»Soll ich dir helfen?«
Marek zuckte zusammen. Er kam aus der Hocke wieder hoch und drehte sich um. Dr. Kerstin Sander stand vor ihm in der Garage.
»Danke«, sagte er lachend, »aber das ist alleine schon schwer genug.«
»Das