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Morgentod. Ole R. BörgdahlЧитать онлайн книгу.

Morgentod - Ole R. Börgdahl


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Uhr - Unverhofft kommt oft

      Bislang hat noch niemand die Polizei gerufen, wenn ich in meiner recht auffälligen Art Häuser beobachte, wenn ich ungebeten Grundstücke betrete oder mir sogar die Namen an den Türschildern notiere. In Nienstedten hielt ich mich an diesem Morgen vor allem an den vergitterten Toren der Grundstückseinfahrten auf. Ich hatte natürlich eine Liste der Immobilien, die zur Disposition standen. Ich weiß nicht immer, woher Gustav seine Informationen nimmt. Wenn ich bei meinen Recherchen doch mal den direkten Kontakt suche und mit den derzeitigen Besitzern eines Objektes spreche, habe ich oft den Eindruck, dass die Leute selbst noch nicht wissen, dass sie ihr Eigentum demnächst veräußern wollen. An diesem Morgen war ich aber nur Beobachter. Ich nahm ein paar Voice-Memos auf und fotografierte so unauffällig wie möglich. Gustavs Kunde suchte ein Grundstück in Elbnähe. Die Anforderungen waren nicht leicht zu erfüllen. Es sollte nach Möglichkeit unbebaut sein, was in Nienstedten so gut wie überhaupt nicht zu finden war. Der heutige Stadtteil war schon seit Ende des Neunzehntenjahrhunderts ein beliebter Villenvorort. Es gab daher auch viele alte Häuser und genau hier konnte sich ein Ansatzpunkt ergeben. Ich war auf der Suche nach einem geeigneten Grundstück, deren Immobilie für eine Totalsanierung, also für einen Abriss, infrage kam. Ich hatte mich natürlich auch mit der Geschichte des Stadtteils beschäftigt, weil einem dabei immer auch wichtige Informationen zufallen. Hierbei trifft man oft auf ehemalige Industrieansiedlungen. In der Regel sollte man sich von Grundstücken mit einer solchen Vergangenheit fernhalten und sich nicht von dem oftmals günstigen Preis verführen lassen. Das harmlose Wort Bodensanierung kann ganze Generationen ruinieren. Solche Fälle sind allerdings selten. In Nienstedten gab es so gut wie keine Industrie, abgesehen von der Elbschloss-Brauerei, deren Gebäude noch heute stehen und in luxuriöse Eigentumswohnungen und in den exklusiven Sitz einer Reederei umgewandelt wurden. Das wären für uns natürlich auch lukrative Objekte gewesen, aber hier war selbst Gustav einige Jahrzehnte zu spät gekommen. Für mich ist es kaum vorstellbar, dass diese Riesenstadt Hamburg vor hundert Jahren noch nicht die Einheit besaß wie heute. So wurde auch Nienstedten erst 1938 eingemeindet. Während des Krieges war Groß-Hamburg das Ziel der Alliierten Bomber. Nienstedten blieb aber weitgehend verschont. Dies war für meine Suche ebenfalls ein Vorteil, denn so gab es wieder mehr alte Objekte.

      Ich war mit sieben Adressen angetreten, übrig blieben nach einer knappen halben Stunde nur noch zwei. Ich parkte meinen Century in der Nähe einer kleinen Kirche, direkt an der Friedhofsmauer. Ich sah auf die Temperaturanzeige meiner Armaturentafel. Draußen waren es achtzehn Grad Celsius. Ich beugte mich vor und schaute durch die Windschutzscheibe in den Himmel. Die Wolken hatten sich etwas aufgelockert. Während der Fahrt nach Nienstedten hatte es vorhin ein wenig geregnet. Auf meiner Motorhaube glänzten immer noch ein paar Tropfen. Ich lehnte mich im Fahrersitz zurück, holte mein Smartphone aus der Innentasche meiner Jacke und entsperrte das Display. Ich dachte darüber nach, dass es praktisch wäre, ein Voice-Memo als Dateianhang in einer Mail zu versenden. Sicher war so etwas möglich, ich hatte nur noch nicht herausgefunden, wie das ging. Ich tippte daher das klassische Mail in mein Smartphone, um Gustav das Ergebnis meiner Recherche mitzuteilen. Es waren nur wenige Zeilen, weil mir klar war, dass ich später noch mündlich Bericht erstatten musste. Ich drückte auf Senden und widmete mich noch einmal kurz den Nachrichten-Apps. N-tv berichtete über den erneuten Ausbruch von Ebola und in der Schlagzeile unmittelbar darunter stand etwas von bunten Möhren, die man in Sachsen-Anhalt züchtete. Welch ein Kontrast. Dann las ich im Abendblatt von einem Zwischenfall in einem Hamburger Mietshaus. Die Polizei hatte einen Mann in Notwehr erschossen. Der akribische Artikel versuchte die Hintergründe und den Tathergang aufzuzeigen. Auf New Yorks Straßen wäre das keiner Zeile wert gewesen. Es machte mich kurz nachdenklich, ich war von all dem schon sehr weit entfernt. Natürlich habe auch ich nicht jeden Tag Mord und Totschlag erlebt, aber die Kriminalität hat in den großen amerikanischen Städten einen anderen Stellenwert als hier. Ich blätterte weiter durch die Nachrichten. Ich schaute kurz auf, sah einen Wagen vorbeifahren, registrierte aber nicht, dass der Fahrer anhielt und in die Parklücke vor mir setzte. Ich war schon wieder in die digitale Welt vertieft, als es gegen die Seitenscheibe klopfte. Ich weiß nicht mehr, ob ich wirklich überrascht war. Vielleicht war ich nur überrascht, Kriminaloberkommissar Kurt Bruckner gerade hier anzutreffen. Ich steckte das Smartphone weg und stieg aus. Er reichte mir gleich die Hand, deutete dann auf meinen Century.

      »Ich dachte gerade noch, den Wagen kennst du doch«, begrüßte er mich.

      »Na, von dem Modell gibt es mittlerweile aber eine ganze Menge in Hamburg, und gerade in Deep Black Perleffekt.«

      »Mag sein«, sagte Bruckner, »aber diese Neunzehn-Zöller hat nicht jeder.« Er stieß mit der Schuhspitze gegen den Pneu meines linken Vorderrades.

      »Gut, ich gebe zu, ich bin es«, erwiderte ich lachend. »Aber Sie sind umgestiegen, wie ich sehe. Was ist aus Ihrem Passat geworden?«

      »Werkstatt! Jetzt fahre ich vorübergehend diesen Mondeo. Konnte es mir nicht aussuchen, obwohl der gar nicht so schlecht ist. Hat ordentlich Leistung unter der Haube, so wie es sich für die deutsche Polizei gehört.«

      Bruckner holte einen dicken, schwarzen Kugelschreiber aus seiner Manteltasche, steckte ihn sich in den Mund und begann einmal daran zu saugen. Ich verstand erst, was das Ding war, als aus Bruckners Mund eine feine Dampfwolke entwich.

      »Sind Sie vom Kaugummi auf Büroartikel umgestiegen«, fragte ich, obwohl ich schon ahnte, was Bruckner da in der Hand hielt.

      »Das ist mein neuster Versuch«, erklärte er. »Elektrische Zigarette.«

      »Habe ich mir schon gedacht. Die Dinger sind gerade modern.«

      »Mag sein, aber das Prinzip gibt es schon seit den sechziger Jahren.«

      Bruckner hatte auch hier gründlich recherchiert. Er setzte zu einem kleinen Vortrag über die elektrische Zigarette an.

      »Es gibt welche mit echtem Tabak, aber das wollte ich nicht.« Er hielt mir seine schwarze E-Zigarette hin. »Bei meiner werden Aromastoffe verdampft, die einem den Tabak nur vorgaukeln.«

      Ich nahm das Ding und sah es mir näher an. »Und das mit dem Vorgaukeln klappt bei Ihnen?«

      Bruckner nickte. »Das ist zu fünfzig Prozent wie mit dem Kaugummi, man muss nur etwas zu tun haben, kauen oder saugen, das lenkt von der Schmacht ab.«

      »Wie lange haben Sie das Ding denn schon?«

      »Knapp zwei Monate«, antwortete Bruckner. »Ich brauche nur meine Tröpfchen und ab und zu eine Aufladung.« Er griff in seine Manteltasche und förderte ein Ladekabel hervor. »Irgendwie witzig, dass ich die E-Zigarette an den Zigarettenanzünder im Wagen anschließe.«

      »Praktisch für unterwegs«, meinte ich und nickte.

      »Sie sind ja auch wohl immer viel auf der Straße«, entgegnete Bruckner. »Haben Sie hier zu tun, verkaufen Sie hier eine Hütte.«

      »Eine Hütte?«, fragte ich.

      »Ein Haus, eine Villa«, klärte Bruckner mich auf und deutete auf das Grundstück gegenüber.

      »Ach, eine Hütte!«, wiederholte ich. »Ich sondiere nur. Mein Schwiegervater hat einen Interessenten und ich suche ein geeignetes Grundstück, Elbnähe, unbebaut, zum Glück spielt Geld keine Rolle.«

      »Das hört man gern.« Bruckner schnalzte mit der Zunge. »Dann laufen die Geschäfte gut?«

      »Das klingt ja, als wenn Sie mit einem Drogendealer sprechen«, sagte ich.

      »Oh, das sollte es aber nicht.« Bruckner ließ seine Stimme geknickt klingen. »Ich kann halt nicht aus meiner Haut heraus. Meine Frau beschwert sich auch schon immer.« Er schwieg noch einmal kurz. »Ich hatte eigentlich gehofft, dass Sie sich mal melden würden.«

      Ich überlegte. Bruckner hatte natürlich recht. Er hatte mir drei oder vier Mails geschickt, das letzte noch Ende Juni. Er hatte vom Ausgang unseres gemeinsamen Falles berichtet. Es hatte zwei Monate gedauert, bis alle Opfer identifiziert waren. Achtzehn Personen, vier Frauen und vierzehn Männer. Zwei der Männer waren bereits verstorben, wobei die Todesursachen nicht mit den Experimenten in Verbindung


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