Heimatkinder Staffel 2 – Heimatroman. Kathrin SingerЧитать онлайн книгу.
Das Gesicht des junge Mannes sah jetzt noch bleicher aus. Er rannte aus dem Abteil.
Eugen von Herwig setzte sich neben die Tragetasche mit dem kleinen Mädchen. Er beobachtete durch das Abteilfenster, wie der junge Mann durch die Sperre verschwand.
Der Zug ruckte wieder an.
»Ich habe doch gewusst, dass es zu spät ist.« Eugen von Herwig war sich noch nie hilfloser vorgekommen wie in dieser Minute.
Warum hatte er den jungen Mann nicht zurückgehalten?
Die Kleine begann zu weinen, als spüre sie, dass etwas geschehen war. Eugen von Herwig wusste sich keinen anderen Rat, als sie zu streicheln und immer wieder zu sagen: »Du wirst bald wieder bei deinem Papa sein.«
Dass der Mann der Vater des Kindes war, daran zweifelte Eugen von Herwig nicht. Er war so aufgeregt, dass er gar nicht daran dachte, in die Reisetasche zu sehen, um festzustellen, was auf dem Zettel stand, den der junge Mann hineingesteckt hatte.
Schließlich stand Eugen von Herwig auf. »Bleib schön sitzen, ich bitte dich, sei brav«, redete er auf das Kind ein. »Ich werde den Schaffner rufen. Warum sind wir denn allein im Abteil?« Er ging zur Tür, schaute hinaus.
Auf dem Gang standen zwei junge Leute. Ihnen rief Eugen von Herwig zu: »Bitte, suchen Sie den Schaffner. Er soll sofort in mein Abteil kommen. Bitte, es ist wichtig!«
Kurz darauf betrat der Schaffner das Abteil. Es war ein älterer Mann.
»Was ist passiert?«, fragte er.
Eugen von Herwig zeigte auf die Kleine. »Der Vater hat an der letzten Station den Zug verlassen. Viel zu spät, um rechtzeitig wieder einsteigen zu können.«
»So ein Leichtsinn«, schimpfte der Schaffner. »Wie kann ein Mensch ein so kleines Kind allein lassen?«
Eugen von Herwig sah ihn entrüstet an. »Allein war das Kind nicht. Der Vater hat es mir anvertraut. Ja, er sagte: Bitte achten Sie ein paar Minuten auf das Kind, Herr von Herwig.«
Der Schaffner schob seine Schildmütze etwas zurück. »Ach, Sie kennen einander. Dann ist die Sache ja halb so schlimm.«
»Nein, wir kennen einander nicht. Wir haben uns hier im Abteil zum ersten Mal gesehen. Es ist reiner Zufall, dass ich den Namen des Mannes weiß. Er heißt Heinz Schmidt.«
»Da sind wir ja schon ein Stückchen weiter«, meinte der Schaffner. »Ich werde gleich von der nächsten Station aus telefonieren und Bescheid sagen, dass wir das Kind dort lassen. In einer Stunde fährt der nächste Zug durch. Mit dem soll der Vater nachkommen und seinen Sprössling in Empfang nehmen.«
Eugen von Herwig wehrte empört ab. »Wir sollen das Kind auf der nächsten Station zurücklassen? Nein, das tu ich nicht. Ich kann mich doch des Kindes nicht entledigen, als wäre es ein Regenschirm, den jemand im Abteil vergessen hat«
»Sie sind gut.« Der Schaffner schüttelte den Kopf. »Zuerst hätten Sie am liebsten die Notbremse gezogen, und jetzt wollen Sie das Kind nicht hergeben.«
»Davon ist nicht die Rede«, erwiderte Eugen von Herwig ärgerlich. »Ich möchte das Kind nur dem Vater übergeben.«
»Dann müssen Sie auf der nächsten Station aussteigen. In ein paar Minuten ist es so weit.« Der Schaffner verließ das Abteil. »Am besten, Sie machen sich schon fertig. Allzu lange halten wir nämlich nicht«, rief er zurück.
Ratlos strich sich Eugen von Herwig über seinen Bart. In solch einer verzwickten Situation war er noch nie gewesen. Handelte er vielleicht doch falsch, wenn er sich noch weiter um das Kind kümmerte? Aber nein, er konnte nicht ruhigen Gewissens im Zug sitzenbleiben und die Kleine einfach ihrem Schicksal überlassen!
So nahm Eugen von Herwig die Tragetasche und war heilfroh, kein großes Gepäck zu haben. Während er aus dem Zug kletterte, entrüstete er sich innerlich darüber, dass man heutzutage die Kinder so herumschleppte.
Von den Fenstern der Abteile sahen ihm andere Fahrgäste nach. Der große, kräftige Mann mit dem Spitzbart wirkte sehr unbeholfen, als er mit dem Kind in der Tragetasche den Bahnsteig entlangging.
Der Schaffner hatte inzwischen den Vorfall gemeldet. Aus dem kleinen Bahnhofsgebäude kam ein jüngerer Mann. »Ich habe bereits zurückgerufen, aber bei der letzten Station hat sich kein Mensch gemeldet, der den Zug versäumt hat. Niemand dort weiß etwas davon, dass ein Mann nicht mehr zu seinem Kind in den Zug zurück konnte«, sagte er zu Eugen von Herwig.
»Unmöglich!« Der aufgeregte Beschützer der Kleinen musste die Tragetasche absetzen.
»Sie wollen mir doch nicht weismachen, dass ein Vater seine Tochter nicht wiederhaben will. Herr Schmidt müsste längst alle Hebel in Bewegung gesetzt haben, diesem Zug zu folgen. Vielleicht hat er sich ein Taxi genommen. Den Zug einzuholen, braucht seine Zeit. Sicher kommt er gleich.«
»Aber in der letzten Station hätte dieser Herr Schmidt bestimmt gemeldet, was passiert ist.«
»Er kann sehr überstürzt zum Taxistand gelaufen sein. – Wo soll ich mich mit dem Kind inzwischen aufhalten?«
»Gehen Sie in den Warteraum.«
Das tat Eugen von Herwig. Noch war er fest davon überzeugt, bald dem Vater des kleinen Mädchens gegenüberzustehen.
Doch es fuhr der nächste Zug durch, ohne dass Heinz Schmidt kam, und es hielt vor dem Bahnhof auch kein Taxi, aus dem er stieg.
Das Kind wurde immer unruhiger. Eine Frau versuchte schon geraume Zeit, es zu beschwichtigen. »Es ist doch höchstens ein halbes Jahr alt«, sagte sie.
»Ja, ja, ich glaube, das hat der Vater gesagt.« Eugen von Herwig strich sich über die Stirn. Ihm wurde recht flau.
In was war er da geraten? Jetzt saß er mit einem kleinen Kind auf einem fremden Bahnhof und wusste nicht, was geschehen sollte. Ohne diesen Vorfall wäre er längst in Bachhausen auf dem Birkenhof.
Ein Polizist kam in den Warteraum. Er ließ sich von Eugen von Herwig genau beschreiben, wie Heinz Schmidt ausgesehen hatte und wie es dazu gekommen war, dass das Kind im Zug zurückblieb.
»Sie glauben doch nicht etwa, dass der Mann das Kind ausgesetzt hat?«, fragte der alte Herr nachdenklich.
»Es scheint so. Oder können Sie sich vorstellen, dass ein Mann, der durch einen unglücklichen Umstand von seinem Kind getrennt wurde, nicht überall Alarm schlägt?«
»Ich hätte das getan«, bekannte Eugen von Herwig. Er stand auf. »Ich überlasse das Kind nicht der Polizei. Nein, auf keinen Fall. Ich fahre jetzt weiter nach Bachhausen. Das können Sie mir nicht verwehren.«
»Bei uns im Polizeirevier wüssten wir uns wahrscheinlich noch weniger Rat mit der Kleinen als Sie, Herr von Herwig«, meinte der Polizist, »trotzdem dürfen Sie das Kind nicht einfach mitnehmen.«
»Der Vater hat es mir anvertraut und keinem anderen. Ich bestehe darauf, das Kind mitzunehmen.« Das war der hartnäckige Ton, in dem Eugen von Herwig gern sprach. »Bin ich vielleicht ein Kindesentführer? Ich habe Ihnen meine Papiere gezeigt, notieren Sie sich genau, wohin ich fahre, und dort soll der Vater das Kind abholen.«
Nach langem Hin und Her durfte Eugen von Herwig mit dem Kind weiterreisen, aber ihm war gar nicht wohl zumute. Die Kleine war inzwischen eingeschlafen. Fürsorglich zog Eugen von Herwig sie in der Tragetasche etwas nach vorn, damit sie nicht im Sitzen schlafen musste.
Als er in Bachhausen ausstieg, ging er sehr aufrecht. Hier gab es bestimmt Leute, die ihn kannten.
Er steuerte geradewegs auf eine Telefonzelle zu und rief eine alte Bekannte, Herma Langen, an. Sie war die Frau eines Freundes. Als sie an den Apparat kam, fragte er: »Frau Langen, darf ich Sie um eine große Gefälligkeit bitten? Ich bin hier auf dem Bahnhof in Bachhausen …«
Die ältere Dame unterbrach ihn: »Da wird sich Imma aber freuen, dass Sie sie endlich wieder besuchen. Ich hole Sie natürlich ab.«
Eugen von Herwig kam gar nicht dazu, sich zu bedanken. Seine