Grenzgängerin. Evelyne BinsackЧитать онлайн книгу.
gesammelt hat, verdunsten kann. Auf dem Weg zum Nordpol geht das aber nicht – das Gelände lässt es nicht zu. Man muss immer wieder Presseis, hoch aufgetürmte Eisbrocken, überwinden, sodass der Schlitten oft seitwärts in den Schnee kippt, sich überschlägt und man ihn mühsam wieder aufrichten muss. Würde man den Schlafsack also zum Trocknen auf den Schlitten binden, wäre er abends nicht nur von innen, sondern auch von außen nass. Die Kunst ist deshalb, herauszufinden, wie man den Schlafsack in der Arktis trocken hält.
Auch die Ernährung ist ein Thema für sich. In der Antarktis habe ich zwar dehydrierte, aber immerhin richtige Mahlzeiten gekocht. In der Arktis geht das nicht, weil der Geruch von Essen die Eisbären anlocken würde. Deshalb gießt man dort nur aufgekochtes Schneewasser über gefriergetrocknete Menüs, wartet ein paar Minuten, bis sie aufgeweicht sind, und isst sie dann direkt aus dem geruchsneutralen Aluminiumbeutel.
Für meine Nordpolexpedition stellten sich mir also tausend neue Fragen:
Welche Skier wähle ich? Mit welchem Fell? Und welche Bindung passt zu meinen speziellen Expeditionsschuhen?
Die passenden Schuhe sind immens wichtig und eine Welt für sich. Ich werde schwitzen, aber der Innenschuh muss trocken bleiben. Welches Material nehme ich besser? Simple Plastiksäcke? Oder speziell angefertigte Dampfsperren?
Welches Material nehme ich bei den Socken? Wähle ich Unterwäsche aus Synthetik oder Merinowolle? Der BH muss gut stützen, aber so bequem sein, dass er nicht drückt und ich ihn Tag und Nacht anbehalten kann.
Dann kommen die Schichten. Und die Überschichten. Und die Über-Überschichten. Welches Material taugt am besten? Und welche Größen?
Wähle ich Daunenjacken? Oder Primaloft? Wie dick sollen die Jacken sein? Wichtig: Daunenjacken dürfen nicht nass werden, sonst fallen die darin enthaltenen Daunen, genauso wie im Schlafsack, in sich zusammen und isolieren nicht mehr.
Welche Handschuhe halten meine Finger warm und isolieren, auch wenn sie nass werden? Welches Material trocknet nachts im Zelt? Welche Über-Handschuhe wähle ich? Goretex? Windstopper?
Extrem der Kälte ausgesetzt ist das Gesicht. Also: Welche Gesichtsmaske taugt am besten? Welches Material hinterlässt keine Druckstellen? Druckstellen begünstigen Frostbeulen. Welches Material fühlt sich trotz gefrorener Atemluft, die sich als Eiszapfen unter der Sturmmaske ablagert, einigermaßen angenehm auf der Haut an?
Welche Kapuze schützt mich richtig, und welche Art Fell nähe ich als zusätzlichen Gesichtswindschutz an? Nehme ich Fellstreifen vom Vielfraß? Das wäre das Beste. Doch wo komme ich an ein Vielfraß-Fell? Also doch besser Fuchsfell. Ich habe noch die Fuchsfellstreifen, die ich vor zehn Jahren an die Kapuze meiner Südpol-Jacke genäht hatte. Dieses Fell gehörte meiner Großmutter. Bevor sie starb, schenkte sie es meiner Mutter. Und später schenkte es meine Mutter mir für meine Südpolexpedition. Jetzt könnte ich das Fell meiner damaligen Kapuze abtrennen und an die neue Kapuze nähen. Die Kapuze muss groß genug sein, um mein Gesicht zu schützen. Sie darf aber nicht zu groß sein, damit sie mir nicht die Sicht verdeckt und die Sturmbrille nicht anläuft. Sie darf aber auch nicht zu locker sitzen, weil sie sonst vom Wind nach hinten geweht wird.
All das und vieles mehr geht mir während der Vorbereitungsphase durch den Kopf, mit Vorliebe morgens um zwei Uhr. Ich schrecke auf, Adrenalin pumpt in mein Blut, und an ein Weiterschlafen ist nicht mehr zu denken. Ich bin hellwach, und die Gedanken fangen an zu rotieren: Was muss ich noch erledigen, welche Probleme stehen mir noch im Weg, an was habe ich vergessen zu denken? Schließlich muss ich auch das Administrative daheim erledigen, die Rechnungen bezahlen und – Mist, das Satellitentelefon darf ich nicht vergessen zu organisieren. Apropos Kommunikation und Navigation: Welches GPS wähle ich? Auf welchem Längengrad und somit in welcher Zeitzone werde ich zum Nordpol unterwegs sein?
Besser, wenn ich mich gar nicht erst zum Weiterschlafen zwinge, denn das zieht mir nur noch mehr Energie ab. So stehe ich häufig mitten in der Nacht auf, um mich an die Arbeit zu machen, mit dem Ergebnis, dass ich wochenlang mit Augenringen durch die Gegend wandle. Kurze und intensive Trainingseinheiten sind in dieser wichtigen Phase das Einzige, was ich mir nicht nehmen lasse. Freunde, Familie, ausgedehnte Klettertouren – fast alles andere muss ich der Reise opfern. Und das, lange bevor sie überhaupt losgeht.
Aber: Die Entscheidung, zum Nordpol zu gehen, wenn auch in vier Etappen, hilft mir, mein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Die erste Etappe wird mich von daheim aus mit dem Fahrrad zum Nordkap führen, in der zweiten Etappe werde ich in einem Team Grönland traversieren, die dritte Etappe wird eine anspruchsvolle Durchquerung Spitzbergens im Alleingang werden, und in der vierten Etappe werde ich allein von der russischen Station Barneo aus zum Nordpol marschieren. Der Vorbereitungsprozess ist zwar sehr fordernd, aber auch wertvoll. Das Ziel zeigt mir wieder eine Richtung an. Es gibt mir eine Struktur in meinem Alltag und lenkt meine Gedanken, die in der Vergangenheit lange genug von Kummer geprägt waren, in eine positive Richtung. Wenn ich abends ins Bett gehe, weiß ich wieder, wozu ich am Morgen aufstehe. Denn der erste Besucher, den ich bis vor kurzem jeden Morgen begrüßte, war der Stein in meiner Brust, dieses dumpfe Gefühl von tiefer Traurigkeit. Dieser Stein ist zwar immer noch da, aber er ist längst nicht mehr so dominant. Dass ich mich dazu entschlossen habe, die Nordpol-Expedition fast gänzlich ohne Sponsorengelder zu finanzieren, und diesen Entschluss auch durchziehen kann, gibt mir Selbstvertrauen und macht mich zusätzlich frei.
ETAPPE 1 | Geissholz (Schweiz) >> Frankfurt am Main, Lübeck-Travemünde (Deutschland) >> Malmö (Schweden) >> Drevsjø, Trondheim, Bodø, Lofoten, Tromsø, Nordkap (Norwegen) | Rund 5000 km
Von Geissholz bis ans Nordkap mit dem Fahrrad
21. Mai bis 2. Juli 2016
Am 21. Mai steige ich endlich daheim auf mein Fahrrad. Insgesamt habe ich 35 Kilogramm Gepäck auf vier Satteltaschen und einen Rucksack verteilt: Mein Zelt samt Schlafsack und Liegematte, meine kleine mobile Küche, meinen Computer, leichtere Sachen wie Ersatzwäsche, Stirnlampe, Taschenlampe und Sackmesser, Essen für die ersten zwei, drei Tage und – nicht zu vergessen – meine Fotoausrüstung. Im Gegensatz zu den intensiven Vorbereitungen in der jüngsten Vergangenheit wird meine nahe Zukunft wunderbar simpel sein: Mein Ausgangspunkt heißt Geissholz, mein erstes Etappenziel Nordkap. Dazwischen liegen rund 5000 Kilometer, in denen ich in die Pedale treten werde. Das ist alles. Keine Termine. Keine Verpflichtungen. Nur Fahrrad fahren, essen, schlafen. Doch zuerst gilt es, jenen Kloß in meinem Hals loszuwerden, der mich heute, wie bei all meinen Abschieden, begleitet. Er wird sich, das weiß ich aus Erfahrung, erst langsam aufzulösen beginnen, wenn meine Freunde, die mir zum Abschied winken, aus meinem Blickfeld verschwunden sind.
Ich verlasse die Schweiz östlich von Basel und folge dem Rhein nordwärts. Bald werde ich bei schlechtem Wetter fahren müssen, denn ich durchquere Deutschland genau während der Zeit der vielen Überschwemmungen, die unseren nördlichen Nachbarn im Jahr 2016 heimgesucht haben. Im Grunde bin ich von Anfang an auf der Flucht Richtung Norden, wo das Wetter besser zu werden verspricht. Die Landschaften in Deutschland präsentieren sich schöner als erwartet, die ersten 1300 Kilometer aber härter. Zwar habe ich auf die Unwetter meistens einen Vorsprung von ein, zwei Tagen, es fühlt sich aber trotzdem an, als hätten sie sich an mein Hinterrad geheftet. So flüchte ich vor den immensen Regengüssen, werde von ihnen eingeholt, flüchte erneut und werde Zeugin der immer höher anschwellenden Flüsse, die über die Ufer treten, Dörfer verwüsten und sogar Menschen töten. So muss sich ein verfolgtes Tier auf der Treibjagd fühlen.
Als Alpinistin und Berufsbergführerin bin ich sommers wie winters mit drastischen Wetterwechseln konfrontiert, sei es auf Gletschertouren, im Eis oder an Felswänden. Die Natur in den