Grenzgängerin. Evelyne BinsackЧитать онлайн книгу.
ausgerichtet, im richtigen Moment die richtigen Entscheidungen zu treffen. Dass ich schon zu Beginn meiner ersten und einfachsten Etappe mit derart garstigem Wetter zu kämpfen habe, damit habe ich allerdings nicht gerechnet.
Durch die Klimaveränderung wird der Jetstream abgebremst. Wenn der Jetstream verlangsamt wird, wird das Wetter gestaut, so wie Autos auf der Autobahn vor einer Baustelle. Wenn das Wetter staut, bleibt es länger dort sitzen, wo es gerade ist. Dadurch gibt es zwar längere Schönwetterphasen, aber eben auch längere Schlechtwetterphasen. Das bedeutet lang anhaltende, verheerende Dürren in den einen Teilen und lang anhaltende, verheerende Niederschläge in anderen Teilen unserer Welt. Aber nicht nur der Wind, auch das Wasser spielt verrückt. Die große Umwälzströmung im Atlantik, die sogenannte Atlantic Meridional Overturning Circulation (AMOC), hat sich im 20. Jahrhundert deutlich abgeschwächt. Der Golfstrom ist Teil dieser Umwälzströmung.
Sogar meine Planung der Nordpolexpedition hat sich wegen der Klimaveränderung dauernd verändert. Schon 2002 hatte ich zum ersten Mal die Idee, den Nordpol vom letzten kanadischen Festland aus zu erreichen. Doch in den vergangenen Jahren ist dort das Meer in Landnähe gar nicht mehr zugefroren, und wenn doch, war die Eisdecke für eine Begehung zu dünn. Kenn Borek Air, eine kanadische Fluggesellschaft, hat deswegen sämtliche Aktivitäten auf der Nordpolarmeer-Eiskappe eingestellt, weil ihr bei der Landung auf dem arktischen Meer-Eispanzer beinahe zwei Flugzeuge samt Piloten und Crew abgesoffen wären. Für Expeditionen zum Nordpol von der kanadischen Festlandseite her bedeutet das, dass die einst einzige mögliche Rettung bei Problemen nicht mehr verfügbar ist. Kenn Borek Air war für Expeditionen von 1970 bis 2014 die letzte Hoffnung – dann, wenn alle Stricke auf dem Eis gerissen waren und dringend Hilfe benötigt wurde. Ich ließ die Idee, diese Route zu wählen, deshalb rasch wieder fallen.
Natürlich mache auch ich mir Sorgen um unseren Globus. Doch auf meiner Expedition richten sich die unmittelbaren und pragmatischen Fragen auf das Hier und Jetzt: Wo finde ich etwas zu essen? Wo trinkbares Wasser? Wie trockne ich das durchnässte Zelt, wenn es weiterhin regnet? Wie schlafe ich im durchnässten Schlafsack? Wie erkälte ich mich nicht bei diesen garstigen Wetterbedingungen? Es sind die immer gleichen Fragen, die ich mir jeden Tag aufs Neue stelle.
Obwohl meine Beine von unzähligen Trainings und Skitouren-Höhenmetern kräftig sind, ist das Fahrradfahren für sie eine ungewohnte Disziplin. Am Anfang mochte ich deshalb noch nicht so viel aus meinen Muskeln herausholen. Erst mit der Zeit spüre ich, dass ich jeden Tag ein bisschen mehr zu leisten vermag. Und je stärker meine Füße in die Pedale treten, desto leichter werden meine Gedanken. Ich pfeife Melodien, die längst vergessen schienen, lasse mich verführen von hübschen, kleinen Cafés am Straßenrand, zelte neben Kühen auf sattgrünen Weiden und teile flüchtige Augenblicke mit Menschen, denen ich wohl nie wieder begegnen werde. Niemals hätte mich mein Bergführer-Beruf zu Städten wie Straßburg geführt. Mit dem Cellospieler vor dem Wahrzeichen der wunderschönen Stadt, dem beeindruckenden Münster, fühle ich mich sofort verbunden. Beide sind wir Figuren, die schwierig in einen Rahmen passen. Eine Art Lebenskünstler, jeder auf seine Weise. Und beide stellen wir uns vermutlich oft die Frage: »Wie weiter?« Eine Frage, in der viel Kreativität, Mut und Antrieb, aber auch viel Verletzlichkeit steckt. Eine Empfindsamkeit, von der ich überzeugt bin, dass sie uns weniger wertend gegenüber anderen Menschen macht.
Jeden Abend, bevor ich in meinem Zelt die Stirnlampe ausknipse, lege ich mir die ungefähre Etappe für den kommenden Tag zurecht. Jeden Morgen starte ich voller Energie in den Tag hinein und freue mich auf die neuen Eindrücke, die mir das Unterwegssein bescheren wird. Ich verlasse den Rhein weiter nördlich und radle der Fulda entlang, wechsle erneut den Fluss und folge der Weser, die inzwischen so hoch angestiegen ist, dass Teile des Radweges unter Wasser stehen. Nachdem ich nördlich der Weser eine schöne Route durch die Lüneburger Heide bis Lübeck gefunden und mich dort auf die Fähre nach Malmö begeben habe, genieße ich jetzt die Überfahrt nach Schweden in meiner kleinen und vor allem trockenen Kajüte. Ich bin dankbar, dass ich mich – im Gegensatz zu den Menschen, deren Keller zuhauf überflutet werden und die teilweise aufgrund der Unwetter ihr ganzes Hab und Gut verlieren – in diesem Moment nur mit einem Luxusproblem zu befassen habe. Vom vielen Regen hatte ich nämlich ständig nasse Haarsträhnen im Gesicht. Und weil ich gerade nichts Besseres zu tun habe, schneide ich sie mir in meinem Mini-Badezimmer kurzerhand mit meinem Sackmesser ab. Das Resultat sieht schrecklich aus. Aber immerhin kommen mir die lästigen Haare jetzt nicht mehr in die Quere.
1300 Kilometer habe ich seit meinem Aufbruch auf dem Fahrrad zurückgelegt. Nun erreiche ich nach einer kurzen Überfahrt schwedisches Festland. Trotz Vorfreude überfordert mich das Land in seiner Größe ein wenig. Welche Route soll ich wählen? Eher die bergige Variante Oslo–Trondheim–Tromsø–Nordkap? Oder fahre ich doch lieber durch das flache, aber fahrradtechnisch etwas langweilige Schweden? Ich entscheide mich für die goldene Mitte. Zuerst werde ich ein Stück durch Schweden radeln und dann, nördlich von Oslo, zur bergigen Küste Norwegens wechseln.
Seit ich Norwegens Grenze durch das schwedische Hinterland erreicht habe, kämpfe ich mit massivem Gegenwind. Dieser ist so stark, dass ich sogar auf flachen Strecken in die niedrigen Gänge schalten muss. Gut, dass es kaum Verkehr gibt, denn die Windböen drücken mich oft aus dem Nichts heraus mitten auf die Straße und in die Gegenspur hinein. Nach drei Tagen Kämpfen und Strampeln und trotzdem täglich über hundert zurückgelegten Kilometern mit über dreißig Kilogramm Gepäck bin ich, mit sehr müden Beinen, in einem kleinen Dorf namens Drevsjø angelangt. Als es nach einer kühlen Nacht am Morgen sogar weiße Flocken schneit, scheint mir der Zeitpunkt perfekt, einen Tag Pause einzulegen. Im nahe gelegenen Dorfladen besorge ich frische Lebensmittel und entdecke dabei einen hübschen Coiffeursalon. Spontan frage ich nach einem Termin und finde mich schon kurze Zeit später mit einem Frottiertuch um den Hals auf einem modernen Friseurstuhl wieder.
Während die zierliche Friseurin, eine Japanerin, das Dilemma mit meinen Haaren in Ordnung bringt, erfahre ich ihre bemerkenswerte Geschichte. Offen erzählt sie mir davon, wie sie vor ihrem gewalttätigen Exmann von Japan nach London flüchtete, dort eine Ausbildung zur Hairstylistin machte, sich über eine Kontaktanzeige im Internet in einen norwegischen Bauern verliebte, zu ihm nach Norwegen zog und sich hier, in diesem abgelegenen Dorf, mit einem eigenen Friseursalon selbständig machte. Heute, erzählt sie weiter, kommen Frauen und Männer von weit her, um sich von ihr beraten und die Haare schneiden und färben zu lassen, während sie Hochglanzmagazine auf der Suche nach Neuigkeiten über die Prominenz durchblättern. Ich mag es, wenn Welten aufeinandertreffen. Mit hübscher Frisur und neuem Elan steige ich nach einer erholsamen Nacht wieder auf mein Fahrrad. Der Wind hat sich zurückgezogen.
Ich bin nun seit drei Wochen unterwegs und habe es in dieser Zeit von daheim bis ins 2000 Kilometer entfernte Trondheim geschafft. Noch einmal ungefähr dieselbe Distanz, und ich werde am Nordkap und damit am Ende der ersten meiner insgesamt vier Etappen zum Nordpol angelangt sein. Gegen Abend finde ich einen hübschen Campingplatz in der Nähe von Trondheim. Für einmal verzichte ich darauf, mein Zelt aufzubauen, und miete zur Feier des Tages eine »hytta«, eine kleine Hütte, die zwar auch spartanisch, aber immerhin mit einem richtigen Bett ausgestattet ist.
Ich bin in Stadtnähe. Das merke ich an der Geschäftigkeit der Menschen, die hier viel ausgeprägter ist als bei jenen, denen ich während meiner Fahrt übers Land begegnete, als ich mich in stetigem Rauf und Runter, bei Gegenwind und Sturm durch das karge Bergland kämpfte. Seit ich meine Füße nach dem schrecklich nassen Deutschland auf trockenen, schwedischen Boden gesetzt habe, hatte ich viel Wetterglück, abgesehen von den Tagen mit starkem Gegenwind. Zehn Tage am Stück genoss ich Sonnenschein. Ich bin dankbar für diese guten Tage, denn ich weiß: Der nächste Wetterwechsel kommt bestimmt, und mit ihm wird auch der Frust zurückkommen und die Unsicherheit, die eine derartige Reise immer mit sich bringt. Die Unsicherheit zum Beispiel, wo ich die kommende Nacht verbringen oder wann ich das nächste Mal feste Nahrung zu mir nehmen werde. Manchmal ernähre ich mich tagelang nur von Früchtemüesli und Nüssen, weil es weit und breit kein Restaurant und keinen Dorfladen gibt. Und wenn, dann