Grenzgängerin. Evelyne BinsackЧитать онлайн книгу.
Auflagen in der Lebensmittelbranche und die Agrarpolitik haben ein Überleben der Kleinbauern nahezu verunmöglicht. Heutzutage werden ohne nachzudenken fünfzig Kilometer mit dem Auto zurückgelegt, um in einem Supermarkt einzukaufen. Und das nicht nur in Skandinavien. Mit dem Tourenvelo samt Gepäck bedeutet dies eine halbe Tagesetappe – bei Gegenwind und vielen Steigungen ein unglaublicher Kraftaufwand. Auch deshalb reise ich so, wie ich reise. Ich werde feinfühlig für Dinge, die Menschen und die Zusammenhänge.
Trolle, Naturgeister, Energien
Ich bin im südlichen Teil Nord-Norwegens angelangt, einer schönen Gegend, wären da bloß nicht diese vielen Tunnels. Die norwegischen Tunnels sind bei Fahrrad-Tourenfahrern ein großes Thema, denn sie sind nicht etwa fachmännisch betoniert und beleuchtet wie bei uns in der Schweiz, sondern mehr schlecht als recht aus dem Felsen geschlagen. In ihrem Innern sind sie nicht nur stockfinster, sondern auch bitterkalt. Ihre Dunkelheit schluckt jegliches Licht, auch das meiner Stirnlampe. Zudem sind sie eng und schmal. So schmal, dass ich nur hoffen kann, dass sich nicht zwei Lastwagen oder Wohnmobile auf meiner Höhe kreuzen. Sollte dies trotzdem der Fall sein, steigt man am besten so schnell wie möglich vom Sattel, presst sich mitsamt Fahrrad an die Tunnelwand, kneift die Augen zusammen und hofft, dass der Spuk bald vorbei sein möge. Noch schlimmer als Enge, Dunkelheit und Kälte ist der monströse Lärm. Kurzum: Norwegische Tunnels sind der reine Horror für jeden Fahrradfahrer. Ich bin kein ängstlicher Mensch, aber diese schwarzen Löcher bedeuten für mich puren Stress. In ihnen wohnt der Teufel, dessen bin ich mir sicher.
Aber nicht nur der Teufel haust in den Tunnels, sondern auch die Trolle, diese kleinen, frechen Naturgeister, die normalerweise in den Wäldern und Dörfern hocken oder an den Wegrändern sitzen. Sie sind nicht böse, nur etwas hinterlistig. Man sieht sie nicht, aber man spürt sie dafür umso mehr. So wie neulich: Es hatte den ganzen Tag geregnet, und meine Beine waren müde, weshalb ich mir auf dem nächstbesten Campingplatz wieder eine »hytta« leistete. Zuvor kaufte ich mir im nahe gelegenen Supermarkt ein Stück Lachs und etwas Rohschinken. Meinem Gefühl nach hatte ich mir diesen kleinen Luxus verdient. Ich freute mich über das feudale Nachtessen und packte die Reste in den Kühlschrank in meiner Hütte. Sie würden mir am kommenden Tag ein willkommenes Znüni sein. Wie immer überprüfte ich alles akribisch, bevor ich am nächsten Morgen weiterfuhr. Schließlich wollte ich nicht viele Kilometer zurückfahren, weil ich beim Packen meinen Kopf nicht bei der Sache und etwas vergessen hatte. Nach ein paar Stunden machte ich eine Pause und freute mich auf meinen Snack. Doch so sehr ich in den Satteltaschen und meinem Rucksack auch suchte, da waren weder Lachs noch Rohschinken.
Nun ist es so, dass dich die Trolle nicht einfach beklauen, sie gehen viel subtiler vor: Sie machen dich vergesslich. Diesen feinen Lachs, den wollten sie wohl unbedingt für sich behalten. Ich konnte nicht fassen, dass mir das passiert war, ärgerte mich und schimpfte innerlich, dann schlug ich den frechen Geistern einen Deal vor: »Dafür, dass ihr meinen guten Lachs und Schinken behalten habt, müsst ihr mich nun sicher durch diese fürchterlichen Tunnels führen.«
Das taten sie dann auch, ziemlich gut sogar. Fortan fuhren die Lastwagen und Wohnmobile erst in einen Tunnel hinein, wenn ich gerade wieder hinausfuhr. Ich kam sicher und heil durch. Das Leben war wieder in Ordnung. Ein paar Tage später entdeckte ich in einem kleinen Supermarkt Schweizer Schokolade, die mit den Nüssen, die ich so gern mag. Für umgerechnet sechs Franken! Ich überlegte: Alles auf dieser Reise kostete viel Geld, und ich war noch weit weg vom Nordpol. Brauchte ich diese Schokolade wirklich? Natürlich kaufte ich sie, genoss ein paar Stückchen und legte den Rest zur Seite. Am nächsten Tag ging ich wieder akribisch vor. Ich überprüfte alles doppelt und dreifach, bevor ich meine Satteltaschen auf das Fahrrad hievte und weiterzog. Bei der ersten Pause realisierte ich: Ich hatte tatsächlich meine teure Schokolade vergessen. Mist! Es war Sonntag, die wenigen Tankstellen und Shops, die sowieso nur alle Dutzend Kilometer vorhanden waren, hatten geschlossen. Langsam ging mir die Energie aus, und weit und breit war kein Café in Sicht. Ich stieg vom Fahrrad und fluchte leise: »Ihr Trolle nehmt mir meine guten Sachen weg, während ich im roten Bereich laufe und langsam, aber sicher in eine Unterzuckerung komme!« Ich sagte ihnen, dass sie diese Sache nun irgendwie wiedergutmachen müssten, dann fuhr ich entnervt weiter.
Schon nach zwei, drei Kurven sah ich eine kleine Tankstelle. Sie hatte tatsächlich geöffnet. Erleichtert stieg ich vom Rad, bestellte einen Kaffee mit viel Milchschaum und dazu eine mit Puderzucker bestäubte Waffel. Und das Beste? Die freundliche Frau von der Tankstelle schenkte mir eine zusätzliche Waffel.
Meine Begegnungen mit den Trollen waren witzig. Manchmal fühlte es sich an, als würden sie mir hinten am Velo hängen. Dann rief ich ihnen zu: »Schieben! Schieben! Nicht ziehen!« Oder ich wollte unbedingt die nächste Fähre erwischen und rief: »Schieben, schieben! Helft mir!«, und radelte dann gleich ein bisschen schneller. Ich weiß, es war nur eine Vorstellung, eine mentale Hilfe. Aber je länger ich allein unterwegs bin, desto empfindsamer werde ich und desto stärker trete ich in Dialog mit der Natur und ihren übersinnlichen Wesen. Egal, ob Trolle, Elfen, Feen oder Zwerge – die Fantasiewesen waren für mich in diesen Momenten absolut real. So real wie die Tatsache, dass auch Berge Wächter sein können.
Ich habe das schon auf meinem Weg zum Südpol gelernt, am Fuß des Berges Ampato in den Anden, im südlichen Peru: Die Indios sagen, dieser Berg sei der Wächter über das ganze Tal, auf ihm würden die Götter thronen. So kletterten die Inkas – lange bevor bei uns der Alpinismus erfunden wurde – auf den über 6000 Meter hohen Gipfel, um Schnee und Eis ins Tal zu bringen. Mit dem heiligen Wasser konnten sich dann die Dorfbewohner reinigen. Diese Reinigungszeremonie muss den Inkas sehr wichtig gewesen sein, denn es wird die Geschichte erzählt, dass die Welt untergeht, sobald der Ampato kein Eis mehr auf seinem Haupt trägt.
Auch in Nepal und Tibet sind die Berge von jeher heilig. Man kann die Geister entweder erzürnen oder sie gut stimmen. Ich spüre, dass darin viel Wahrheit steckt, auch wenn es für unseren westlichen Verstand wenig Sinn ergibt. Es war 2003, als ich für eine kleine Vortragsreihe mit Tashi Tenzing und Reinhold Messner unterwegs war. Tashi Tenzing ist ein Enkel des legendären Sherpa Tenzing Norgay, der 1953, gemeinsam mit dem Neuseeländer Edmund Hillary, Erstbesteiger des Mount Everest war. 1996 wollte Tashi Tenzing, damals 31-jährig, seinen ersten Gipfelversuch wagen und ließ sich vorher von einem Lama, einem buddhistischen Priester, für den Berg segnen. Der Lama sagte, er müsse sehr vorsichtig sein, es sei kein gutes Jahr an der Chomolungma – so der tibetische Name des Mount Everest. Tashi Tenzing verschob darauf sein Vorhaben und stieg erst 1997 zum ersten Mal auf den höchsten Gipfel der Welt. Eine weise Entscheidung, denn am 10. und 11. Mai 1996 wurden mehr als dreißig Bergsteiger beim Versuch, den Gipfel des Everest zu erreichen, von einem heftigen Wetterwechsel überrascht. Acht von ihnen kamen dabei ums Leben. Der Lama hatte das Unglück erahnt. Auch ich spüre, wenn ich sehr lang unterwegs bin, ob sich etwas tendenziell eher in eine gute oder in eine schlechte Richtung entwickelt; ahne, ob sich eine Gefahr anbahnt oder ob etwas gut bleibt. Einzelne Lamas haben diese Fähigkeit sehr viel ausgeprägter. Sie spüren vermutlich nicht nur Tendenzen, sondern haben reale Vorahnungen.
Von verschiedenen spirituellen Quellen hört man, ein Geist namens »Vista« throne über dem Mount Everest. Dieser Geist sei ein Erderschaffungswesen, dem die Kraft der Reinigung innewohne. Die Reinigung geschehe, so wird erzählt, indem negative Emotionen wie Ehrgeiz, Stolz, Übermut, Ungeduld oder Wut, die in niedriger Energie schwingen und bewusst oder unbewusst von Menschen ausgehen, von den höher schwingenden Energien am Mount Everest zurückgesandt werden. Wie der Schall eines Rufs, der an einer Felswand abprallt und als Echo zurückkommt, wird der Mensch auf seine eigenen Schwächen und Schatten zurückgeworfen und mit diesen am Berg konfrontiert.
Ich war insgesamt dreimal am Mount Everest – 2001, 2005 und zuletzt 2013. Im Jahr 2001 erreichte ich als erste Schweizerin den Gipfel, und dies, obwohl ich mich während der Akklimatisationsphase überforderte und zu früh und zu schnell zu hoch aufstieg. Zum Glück warnte mich die Höhenkrankheit in jener Nacht im Lager 2 auf einer Höhe von rund 7600 Metern. Sobald ich ins vorgeschobene Basislager zurückstieg, klang sie wieder ab. Ich erkannte, dass sich am Everest die eigenen Schwächen