Heimatkinder Staffel 4 – Heimatroman. Kathrin SingerЧитать онлайн книгу.
ihre Gefühle für andere hatte abstumpfen lassen? Musste ihr Liebling Reserl erst einen Unfall überstehen, damit sie begriff, dass auch das Eheglück der Weißenbergs den Zufällen des Lebens ausgeliefert war?
Sie zuckte zusammen, weil es so stürmisch klingelte. Tauchte etwa ihr Internet-Ganove wieder auf? Jetzt war sie allein und musste sehr stark sein. Das war leichter, als wieder einen Mann in ihr Leben und Herz zu lassen! Todesmutig drückte sie auf den Türöffner.
»Stefan …!« Es klang wie ein Jubel der Erleichterung, den sie ihm entgegenrief, als er die Treppe hochstürmte. Und er lächelte sogar und hielt eine einzelne rote Rose in der Hand. Das konnte doch nur bedeuten, dass Reserl außer Lebensgefahr war!
»Wie geht es ihr?«
»So weit ganz gut!«, entgegnete er außer Atem. »Sie schläft. Morgen besuchen wir sie wieder. In vier Tagen ist sie zu Haus.« Er sprach ganz schnell und hielt ihr die Rose direkt vor ihre blasse Nase. »Eine einzelne Rose zu verschenken, ist romantisch, kann aber auch kitschig sein, oder? Hast du es gesagt oder nicht?«
Sie überlegte. »Ja, kann sein. Woher weißt du das?«
Stefan wollte nicht eintreten. Es zog ihn zu Marie, Jossi und Dany. Aber für ein freches Grinsen reichte die Zeit. »Von unserem neuen Landarzt. Ab Mai praktiziert er wohl schon. Und den verdankt die Gemeinde nur dir, Anette. Deshalb bekommst du die Rose. Und wenn du endlich aufhörst, die große Tragödie herauszukehren, kannst du gleich einen ganzen Strauß in Empfang nehmen.« Damit drückte er ihr einen Kuss auf die Wange, kehrte auf den Absätzen um und rannte die Treppe hinab.
»Stefan …!«, schrie sie ihm hinterher. »Stefan, bitte grüß Marie von mir!«
Seine Schritte verhallten. Unten fiel die Tür ins Schloss. Aber dann hörte sie neue Schritte. Sie kamen zurück. Anette lächelte. Stefan ließ sich doch noch zu einer Tasse Tee verleiten, um ihr mehr von Reserl zu erzählen.
Aber da ging Frank Bahring zu ihr hoch. Sie sah ihm wortlos entgegen, bemerkte den Strauß roter Rosen in seinem Arm, und prompt versank alles hinter dem Schleier ihrer Tränen. Nur ihr Verstand arbeitete so klar wie sonst.
»Bist du der neue Arzt, Frank?«, hauchte sie.
Er baute sich vor ihr auf. »Ich wollte in deiner Nähe bleiben, Anette. Es ist ein neuer Anfang für mich. Und ich werde warten, bis du wieder Vertrauen zu mir hast und entscheiden kannst, ob es auch ein Anfang für dich …, für uns werden soll.«
Wie zärtlich und tief seine Stimme klang. Und wie anziehend dieser herbe Duft seiner Haut war. Anette bebte noch heftiger als auf dem kalten Balkon.
»Und England? Und deine Kinder?«
»Mir ist eingefallen, dass sie, wenn sie mich wirklich vermissen, auch zu Besuch in das alte Häuschen von Doktor Huber kommen werden. Dort werden sie einen glücklichen Vater antreffen, weil er von der Frau, die er liebt, kein zu großes Opfer verlangen musste. Nur den Mut zur Liebe.«
Anette konnte kein Wort sagen. Alles, was sie ausdrücken wollte, erstickte unter ihren Tränen. Sie hob nur mit einer hilflosen Geste die Hand mit der einzelnen Rose.
»Wenn du eine Vase für den Strauß und eine Tasse Tee für mich hast, lass mich bitte herein, Anette. Dann erzähle ich dir auch, was mit Reserl geschah.«
»Reserl!« Sie erwachte wie aus einem schönen Traum. »Ja, natürlich … Reserl!« Und sie eilte ihm voraus, huschte in die Küche, suchte fieberhaft nach einer Vase, und als sie Wasser hineinlaufen ließ, stand Frank schon hinter ihr. Behutsam zog er einige bunte Bänder aus seiner Jackentasche und legte sie auf den Küchentisch.
»Sie gehören Reserl, Anette. Baronin Weißenberg hatte es plötzlich so eilig, zu ihren beiden jüngeren Kindern zu kommen, dass ich vergaß, sie ihr zu geben. Ob du das für mich tun kannst?«
»Du kennst Marie auch schon?«
Er nickte. »Willst du das für mich tun? Ich muss wieder nach München …, heute oder morgen …«
»Morgen!«, entschied Anette. »Ja, natürlich bringe ich die Bändchen zum Weißenberg-Hof. Aber vorher musst du mich küssen, Frank. Am besten eine ganze Nacht lang.«
Er legte den Strauß beiseite und küsste sie. Und Anette bebte wieder, umfangen von seiner Wärme und Zärtlichkeit, so, wie sie es sich immer gewünscht und ersehnt hatte.
*
»Sie kommen! Sie kommen!«, schrie Reserl aus Leibeskräften, weil sie endlich den Wagen von Frank auf den Weg zum Weißenberg-Hof einbiegen sah. Und damit rannte sie ins Haus in den riesigen Essraum.
Seit Marie und Stefan geheiratet hatten, war es zu einer hübschen Tradition geworden, das Osterfest mit einem reichhaltigen Mittagessen zu feiern. Dazu versammelten sich die Angestellten und einige bevorzugte Gäste. Und Pfarrer Rieder war natürlich jedes Jahr dabei.
Heute hatte er die Witwe Matuschek mitbringen dürfen, und während Wilma noch mit den Angestellten in der Küche hantierte, damit die beiden Lammkronen auch pünktlich und knusprig serviert werden konnten, stand er mit gefalteten Händen vor dem Bäuchlein neben der Witwe, und beide beobachteten ehrfürchtig vor Hunger, wie Marie Servietten zurechtzupfte, Tischkarten zurechtrückte und einige Kerzen tiefer in die Halter drückte, damit sie nicht gleich aufs karierte Tischtuch tropften.
Der gute Sepp kam mit einem riesigen Krug Bier und suchte abwechselnd Maries und des Pfarrers Blick, weil er nicht wusste, wer ihm gestatten würde, den auf den Tisch zu stellen.
»Mami!«, wiederholte Reserl inmitten dieser feierlichen Atmosphäre. »Anette und Frank kommen! Sie sind gleich oben!«
»Dank dem Herrgott!«, murmelte der Pfarrer Rieder, fügte aber gleich laut hinzu: »Das LAUDATE, Baronin, es war heute wahrhaftig ein Genuss. Wenn Frau Lichtner …«
»Ja, ihr Sopran klingt so glockenhell wie nie!«, erwiderte Marie, packte Reserls Arm und zog sie zu sich, um die große weiße Seidenschleife an ihrem Hinterkopf auch noch zurechtzuzupfen. Reserl duldete das nur zu gern. Denn diese riesige Seidenschleife trug sie heute nur Anette zuliebe. Die betonte neuerdings nämlich häufig, wie gut ihr Haarschleifen gefielen.
Reserl rannte wieder vors Haus, um sie und Frank willkommen zu heißen. Dany und Jossi hockten auf der Bank in der Sonne und verteilten zum fünften Mal an diesem Tag ihre gefundenen Ostereier von einem Körbchen ins andere. Und weil es dazu wohl zu Meinungsverschiedenheiten gekommen war, musste auch Jossis weiße Haarschleife etwas abbekommen haben.
Reserl bemerkte es gerade noch rechtzeitig und beugte sich über sie. Aber Jossi störte das. Sie duckte sich, um zu beobachten, ob Franks Wagen gleich in den Hof fuhr. Und da schrie sie plötzlich noch lauter als Reserl: »Die bringen Leute mit! Fremde Leute! Papiiii …!«
Papi Stefan hörte nicht, weil er gerade mit Frau Hämmerle und ihrem Mann über den Hof entschwunden war, um ihnen zu zeigen, wo der Hofladen gebaut werden sollte. Reserl, Jossi und Dany rannten also los, um die Fremden aus Frank Bahrings Auto zu begutachten.
Sie hatten den neuen Landarzt schon ins Herz geschlossen, bevor das alte Haus renoviert und seine Praxis eröffnet worden war. Aber nun blieben ihnen doch die ›gesegneten Oster-Wünsche‹ im Halse stecken, denn Doktor Bahring stellte ihnen den sehr flott gekleideten und hübschen Jüngling als seinen Sohn Ben vor. Leider beachtete der Reserl und Jossi kaum, wandte sich aber gleich Dany zu. Er reichte ihm seine schmale Hand und lächelte etwas von oben herab.
Dany störte das nicht. Das Mädchen, das ebenfalls aus dem Auto stieg, interessierte ihn mehr. »Und die …?!«, fragte er.
Das war ein hübsches Persönchen mit fast schwarzen Haaren und einem herzförmigen Gesicht, aus dem neugierige Kulleraugen lugten.
»Sara!«, näselte Ben als Erklärung. »Meine Schwester Sara. Sara, sag auch was! Oder hast du die Sprache verloren?«
Sara lächelte nur. Ihr Lächeln galt dem kleinen blonden Dany, der sie voller Bewunderung anstrahlte.
Inzwischen nahmen Anette und Frank den Osterkorb